Der Seelenhändler
der er vor wenigen Tagen geholfen hatte, aus der Höhle zu entkommen, hatte man sie lange im Burghof war-ten lassen. Als es dunkel geworden war und sich immer noch niemand um sie gekümmert hatte, glaubten sie, die Hoffnung, ihre Mägen beruhigen zu können, schon aufgeben zu müssen. Doch schließlich war Wolf von der Klause erschienen, um ihnen zu sagen, dass sie sich die nächsten Tage auf der Burg aufhalten durften; Heinrich sollte derweil dem Schmied zur Hand gehen, der zur Zeit viel Arbeit hatte. Anschließend waren sie von Lisa, der Magd, in ihre Kammer geführt worden.
Jetzt sahen sie sich erstaunt an.
„Verstehst du das, Bruder Heinrich?“, fragte Rudlin und ließ seinen Blick durch die Kammer schweifen. Trotz seiner Schmerzen war ihm die Verblüffung deutlich anzumerken.
„Nein. Das verstehe, wer will. Diese Art von Aufmerksamkeit erweisen uns sonst nur die Brüder. Aber vielleicht legt man hier besonderen Wert auf Gastfreundschaft, gerade wandernden Pilgern gegenüber. So etwas soll es schließlich geben. Doch wie auch immer: Der Herr in seiner Güte scheint es gut mit uns zu meinen. Es wird Zeit, dass wir sein Angebot annehmen. Komm, lass uns essen, Bruder Rudlin.“
Der Abend war schon ein gutes Stück weit fortgeschritten, als Wolf mit einer Laterne in der Rechten in den dunklen Hof hinaustrat. Es war kühl und sehr windig geworden. Mit raschen Schritten ging er zum Nordtrakt hinüber und betrat den Gesindebau, in dessen drittem Stock man die beiden Pilger untergebracht hatte.
Er schlug die Kapuze seiner Gugel nach hinten und blickte sich um. Die Laterne in seiner Hand warf gespenstische Schatten. Er befand sich im Treppenhaus des Gebäudes. Obwohl er nicht oft hierherkam, kannte er sich einigermaßen aus. Rechts von ihm führte ein Gang zur Gesindeküche und den Vorratsräumen. Geradeaus lagen die Räucherkammern. Auf der linken Seite führte eine breite Treppe ins erste und zweite Stockwerk hinauf. Dort lagen die Schlafräume. Die der Knechte im ersten, die der Mägde im zweiten. Die beiden falschen Pilger waren noch ein Stockwerk darüber untergebracht, wo sich eine Reihe weiterer kleiner Kammern befand. Die Meisten von ihnen beherbergten Geräte und Utensilien, die selten oder gar nicht mehr gebraucht wurden. Eine schmale Stiege führte vom zweiten Stock in diesen Bereich des Wirtschaftstraktes.
Vorsichtig stieg Wolf die Treppe hinauf. Obwohl er sich bemühte, so leise wie möglich zu sein, ächzte das Holz hin und wieder unter seinem Tritt. Doch er war sich sicher, dass das Gesinde um diese Zeit schon fest schlief. Wer vor dem ersten Hahnenschrei wach zu sein hatte, konnte es sich nicht leisten, des Nachts lange aufzubleiben.
Endlich hatte er das dritte Stockwerk erreicht und lauschte angestrengt. Da bemerkte er den schwachen Lichtschimmer, der aus einer der Kammern unter der Türritze hervordrang. Die Pilger. Hier also waren sie untergebracht. Er schlich sich heran und horchte an der Tür. Tatsächlich, sie waren noch auf. Er hörte Gemurmel, und als er sich darauf konzentrierte, glaubte er, seinen Ohren nicht recht zu trauen – einer der beiden betete. Und er schien sehr inbrünstig zu beten.
Wolf war verunsichert. Falsche Pilger, die beteten? Gemeine Mörder, die das Gespräch mit Gott suchten? Das wollte nun so gar nicht in das Bild passen, das er sich bislang von den beiden gemacht hatte.
Er horchte weiter. Soeben war der, der betete, offenbar der Ältere, der Rudlin hieß, zu Ende gekommen. Deutlich hörte Wolf, wie die Männer das „Amen“ sprachen.
„Hast du noch arge Schmerzen?“, fragte Heinrich, der jüngere der beiden.
„Es geht. Die schöne Dame hat die ärgsten vertrieben“, antwortete Rudlin.
„Die schöne Dame oder die Arznei, die sie dir verabreicht hat?“ Heinrich lachte.
Wolf hörte, wie auch Rudlin kurz lachte. Dann entstand eine Pause. Beide schwiegen.
„Ich denke, wir sollten nun schlafen, meinst du nicht auch?“, schlug Heinrich schließlich vor.
„Das denke ich auch. Ich will nur noch ein wenig im Evangelium lesen. Dann lösche ich die Kerzen.“
„Willst du mir nicht daraus vorlesen?“
„Aber ja doch.“
Wieder glaubte Wolf, nicht recht gehört zu haben. Er war verblüfft. Zumindest der Ältere musste offenbar Latein beherrschen. Gehörten die beiden etwa dem geistlichen Stand an? Im Evangelium lesen, dachte er grimmig. Das wird ja immer besser. Zwei Halunken – elende Mordbuben –, die ihre Identität verbergen und sich als Pilger
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