Der Seelensammler
Marcus: Er und sein Lehrer waren nicht einfach nur anwesend gewesen. Es
hatte ein Handgemenge gegeben. Und er hatte sich gegen den dritten Mann zur
Wehr gesetzt, gegen den linkshändigen Schützen.
Marcus streckte dem Gorilla den Oberarmknochen entgegen, sprang
dabei jedoch plötzlich auf und warf sich auf ihn. Weil sein Widersacher damit
nicht gerechnet hatte, verlor er das Gleichgewicht. Er wich instinktiv zurück
und stolperte über einen der Abfallbehälter. Dabei ging er zu Boden und verlor
die Pistole.
Marcus hob die Waffe auf und bedrohte nun den anderen damit. Ein
bisher unbekanntes Gefühl erfasste ihn, das er nicht kontrollieren konnte:
Hass. Er zielte auf den Kopf des Mannes. Er erkannte sich selbst nicht wieder,
denn er wollte einfach nur abdrücken. Dass er es doch nicht tat, lag an den
Worten des Mannes.
»Komm runter!«, rief er.
Marcus begriff, dass der Komplize vom Vormittag ebenfalls da war. Er
sah zur Treppe: Ihm blieben nur wenige Sekunden. Der Oberarmknochen lag nah bei
dem Gestürzten. Ihn wieder an sich zu nehmen, war zu riskant, denn dabei hätte
er entwaffnet werden können. Da Marcus nicht mehr die Kraft hatte, zu schießen,
floh er.
Er rannte die Treppe hinauf, ohne aufgehalten zu werden, und eilte
dann zum Hinterausgang. Nachdem er das Haus verlassen hatte, warf er einen
kurzen Blick auf die Waffe, die er nach wie vor umklammert hielt. Er warf sie
weg.
Der einzige Fluchtweg führte über den Hügel. Er kletterte hinauf und
konnte nur hoffen, dass die Bäume eine Verfolgung erschwerten. Das Einzige, was
er hörte, war sein eigenes Keuchen. Nach einer Weile stellte er fest, dass ihm
niemand folgte. Doch ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern, denn nur wenige
Zentimeter von seinem Kopf entfernt schlug eine Kugel ein.
Er war zur menschlichen Zielscheibe geworden.
Marcus rannte weiter und ging hinter den Sträuchern in Deckung.
Seine Füße versanken im Boden, und beinahe wäre er nach hinten gefallen.
Bis zur Straße waren es nur noch wenige Meter. Er hangelte sich die
Böschung hinauf. Weitere Schüsse. Fast hatte er es geschafft. Er zog sich an
einer Wurzel hoch und spürte Asphalt. Vorsichtshalber blieb er auf dem Bauch
liegen, um nicht entdeckt zu werden. Dabei merkte er, dass seine rechte Seite
blutete. Es konnte sich nur um einen Streifschuss handeln, denn er spürte keine
Schmerzen. Doch wenn er nicht bald von hier wegkam, würden sie ihn einholen.
Ein Licht blendete ihn. Es war die Sonne, die sich in der Stoßstange
eines sich nähernden Wagens spiegelte. Hinter dem Lenkrad erkannte er ein
vertrautes Gesicht.
Es war Clemente mit seinem alten Panda. Der hielt und rief: »Los,
steig ein!«
Marcus gehorchte. »Was machst du denn hier?«
»Als du mir erzählt hast, dass du in der Arztpraxis angegriffen
worden bist, habe ich beschlossen, dich lieber im Auge zu behalten«, sagte
Clemente und trat aufs Gas. »Ich habe einen verdächtigen Wagen vor der Klinik
gesehen und wollte gerade die Polizei rufen.« In diesem Moment bemerkte er die
Wunde an Marcus’ Seite.
»Alles gut!«, beruhigte ihn Marcus.
»Bist du dir sicher?«
»Ja«, log er, denn gar nichts war gut.
Aber das lag nicht an der Kugel, die ihn gestreift hatte. Es war ihm
gelungen, eine weitere Begegnung mit dem Tod zu überleben. Allerdings hatte er
diesmal keinen neuen Gedächtnisverlust erlitten, sondern etwas über sich
erfahren, was ihm ganz und gar nicht gefiel: Er war in der Lage, zu töten.
Sofort wechselte er das Thema: »Ich habe einen Oberarmknochen in der Klinik
gefunden. Wahrscheinlich stammt er von einem Kind.«
Clemente schwieg, schien aber erschüttert zu sein.
»Ich musste ihn auf der Flucht zurücklassen.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen! Hauptsache, du konntest dich in
Sicherheit bringen.«
»In den Knochen war ein Name eingeritzt«, sagte Marcus. »Astor
Goyash. Wir müssen herausfinden, wer das war.«
Clemente starrte ihn an: »Wer das ist, meinst du wohl. Er lebt und ist mit Sicherheit kein Kind mehr.«
13 Uhr 39
Die erste Lektion, die Sandra Vega gelernt hatte, war,
dass Häuser niemals lügen.
Deshalb hatte sie beschlossen, sich in Laras Wohnung in der Via dei
Coronari umzuschauen. Sie hoffte, so wieder Kontakt zu dem Pönitenziar mit der
Narbe an der Schläfe aufnehmen zu können, weil sie wissen wollte, ob das Mädchen
tatsächlich Jeremiah Smiths viertes Opfer war.
Sie kann noch am Leben sein!, dachte sie, wollte sich aber lieber
nicht ausmalen, was Lara gerade durchmachte.
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