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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Rednerpult waren Getränke
aufgebaut, viele hatten ein Glas in der Hand. Es gab auch eine Torte, von der
nur noch die Hälfte übrig war. Der Filmende lief zwischen den Gästen umher und
forderte sie auf, etwas in die Kamera zu sagen. Der eine winkte, der andere
machte Faxen. Die Videokamera erfasste einen jungen Mann, der einen ironischen
Monolog über die Mühen des Studierens hielt. Die Freunde um ihn herum lachten.
Ganz im Hintergrund stand eine junge Frau, die gar nicht richtig dazuzugehören
schien. Sie lehnte an einer Bankreihe, hatte die Arme vor der Brust verschränkt
und sah ins Leere. Die allgemeine Heiterkeit schien sie nicht anzustecken.
    »Das ist sie!«, sagte der Commissario überflüssigerweise.
    Sandra musterte sie aufmerksam. Sie wippte nervös auf und ab, biss
sich auf die Unterlippe und fühlte sich eindeutig unwohl.
    »Ist das nicht merkwürdig? Die Szene erinnert mich an die Fotos von
Verbrechensopfern in den Medien. Sie sind stets in einer Situation aufgenommen
worden, die nichts mit dem späteren Schicksal dieser Menschen zu tun hat: auf
einer Hochzeit, einem Ausflug oder einer Geburtstagsfeier. Vielleicht hat den
Opfern der Schnappschuss nicht mal gefallen. Nie wären sie auf die Idee
gekommen, dass dieses Bild eines Tages in der Zeitung oder im Fernsehen gezeigt
werden könnte.«
    Tote, die auf alten Fotos lächeln – Sandra kannte das gut.
    »Nie hätten sie gedacht, eines Tages berühmt zu werden. Plötzlich
kommen sie ums Leben, und die Leute wissen alles über sie. Das ist doch bizarr,
oder?«
    Während Camusso diesen Gedanken nachhing, fiel Sandra auf, dass sich
Laras Gesichtsausdruck unmerklich veränderte. Mit dem Instinkt der
Polizeifotografin war sie darauf gestoßen.
    »Bitte spulen Sie noch einmal zurück.«
    Der Commissario gehorchte wortlos.
    »Und jetzt bitte alles in Zeitlupe.« Sandra beugte sich vor und
wartete darauf, dass das Wunder erneut geschah.
    Laras Lippen formten ein Wort.
    »Sie hat etwas gesagt!«, rief Camusso erstaunt.
    »Ja, sie hat etwas gesagt.«
    »Und was, bitte schön?«
    »Zeigen Sie es mir noch einmal.«
    Der Commissario spielte die Szene mehrmals hintereinander ab,
während Sandra versuchte, das Wort zu erkennen.
    »Sie sagt ›Mistkerl‹.«
    Camusso sah sie verblüfft an. »Sind Sie sicher?«
    Sandra drehte sich zu ihm um. »Ich würde sagen, ja.«
    »Und auf wen ist sie so sauer?«
    »Mit Sicherheit auf einen Mann. Drücken Sie wieder auf Start,
vielleicht finden wir heraus, wen sie meint.«
    Der Commissario gehorchte. Der Filmende ging ziemlich wahllos vor
und nahm sich nicht die Zeit, die einzelnen Gäste in Nahaufnahme zu zeigen. Bis
er die Kamera nach rechts schwenkte, so als folge er Laras Blick. Dieser war
nämlich gar nicht ins Leere gerichtet, wie es zuerst den Anschein hatte: Sie
schaute jemanden an.
    »Können Sie kurz auf Pause drücken?«, bat sie den Commissario und
zeigte auf den Bildschirm.
    Camusso gehorchte. »Wieso, was ist?«
    Sandra hatte einen Mann um die vierzig entdeckt. Er lächelte und war
von jungen Studentinnen umringt. Er trug ein blaues Hemd und eine gelockerte
Krawatte. Der Look eines Rebellen, dazu kastanienbraunes Haar und helle Augen:
ein faszinierender Typ. Er hatte eine Hand auf die Schulter eines Mädchens
gelegt.«
    »Und das soll der ›Mistkerl‹ sein?«, fragte der Commissario.
    »Das Zeug dazu hat er.«
    »Und Sie glauben, er ist der Kindsvater?«
    Sandra erwiderte Camussos Blick. »Es gibt Dinge, die lassen sich
nicht anhand eines Videos belegen.«
    Als der Commissario merkte, welch dämliche Bemerkung er da gemacht
hatte, versuchte er, sie mit einem Witz zu überspielen. »Ich dachte, Sie als
Frau hätten einen sechsten Sinn für so etwas.«
    »Schön wär’s!«, entgegnete sie mit gespieltem Bedauern. »Aber
vielleicht sollte man sich mal mit ihm unterhalten.«
    »Warten Sie, ich sage Ihnen, wer das ist.« Camusso lief um den
Schreibtisch herum und suchte etwas in einer Mappe. »Wir haben alle Gäste
dieser Feier um ihre Personalien gebeten. Man kann schließlich nie wissen.«
    Sandra staunte über die Effizienz der römischen Kollegen.
    Nachdem der Commissario in einer Liste nachgesehen hatte, verkündete
er: »Christian Lorieri, Dozent für Kunstgeschichte.«
    »Haben Sie ihn vernommen?«
    »Er hatte keinen Kontakt zu Lara, insofern gab es keinen Grund, ihn
zu verhören.« Camusso ahnte, was ihr durch den Kopf ging. »Doch selbst wenn er
der Kindsvater wäre, wird er nur ungern mit uns reden wollen:

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