Der Seelensammler
bahnte sich einen
Weg zwischen ihnen hindurch und betrat die Kirche Santa Maria sopra Minerva.
Anders als beim ersten Mal, war sie jetzt nicht leer. Touristen und Gläubige
liefen in der Basilika umher. Sandra fand ihre Gesellschaft beruhigend und ging
sofort in die Kapelle des heiligen Raimund von Peñafort. Sie wollte begreifen.
Als sie den kümmerlichen Altar erreicht hatte, stand sie wieder vor
dem Bild des Heiligen. Rechts davon befand sich das Fresko Christus
als Weltenrichter zwischen zwei Engeln . Es war regelrecht von
Votivkerzen und Lichtern belagert. Für welche Gebete sie wohl brannten, oder
welche Sünden diese Flammen sühnten? Diesmal verstand Sandra, was die sie
umgebenden Symbole bedeuteten: Sie alle markierten einen Ort der Gerichtsbarkeit.
Das Seelentribunal, dachte sie.
Die Schlichtheit dieser Kapelle sorgte für den nötigen Ernst. Die
Ikonografie zeigte einen Gerichtsprozess: Christus war der einzige Richter.
Unterstützt wurde er von den beiden Engeln neben ihm, während der heilige
Raimund – der Pönitenziar – den Fall vortrug.
Sandra musste lächeln. Das war der Beweis dafür, dass sie beim
ersten Mal nicht zufällig hierhergelotst worden war. Sie war keine
Ballistikexpertin. Aber jetzt, da sie wieder einen klaren Kopf hatte, konnte
sie den Schusswechsel vom vergangenen Vormittag nachvollziehen. Das Echo der
Schüsse in der Kirche hatte verhindert, dass sie den Schützen orten konnte.
Aber nach ihrem Erlebnis im Tunnel unter Laras Haus bezweifelte Sandra, dass
ihr tatsächlich jemand nach dem Leben trachtete. Im Tunnel war die Gelegenheit
ideal gewesen, sie zu töten, trotzdem hatte der Schütze sie nicht genutzt. Und
irgendetwas sagte ihr, dass es sich um dieselbe Person handelte.
Derjenige, der sie in die Basilika gelotst hatte, wollte herausfinden,
wie viel sie wusste. Denn David musste etwas über diesen Ort herausgefunden
haben. Er verfügte über eine Information, hinter der nun jemand her war –
jemand, der sie um jeden Preis kennenlernen wollte. Jemand, der sie schon
vorher benutzt hatte, indem er ihr weismachte, sie sei bedroht, und sich seiner
Freundschaft zu David rühmte. Dann hatte er sie reingelegt, damit er über sie
an den Pönitenziar herankam. Deshalb war er auch mit ihr in den Tunnel hinabgestiegen.
Sandra drehte sich um und entdeckte ihn inmitten einer Gruppe von Gläubigen.
Schalber beobachtete sie aus sicherer Entfernung. Er hatte keinen Grund mehr,
sich vor ihr zu verstecken.
Sie berührte das Pistolenhalfter unter ihrem Shirt, um ihm zu
zeigen, dass sie zu allem bereit war. Er zuckte nur mit den Schultern und
näherte sich langsam, zum Zeichen, dass er keine bösen Absichten hegte.
»Was willst du?«
»Ich nehme an, du weißt jetzt alles.«
»Was willst du?«, wiederholte sie barsch.
Schalber ließ seinen Blick zu Christus dem Weltenrichter schweifen.
»Mich entschuldigen.«
»Du hast auf mich geschossen.«
»Ich habe dir das Heiligenbildchen unter der Hotelzimmertür
durchgeschoben und dich hierhergelotst, weil ich Davids Fotos haben wollte. Aber
als du mein Handy zum Klingeln gebracht hast, wusste ich, dass ich sofort
handeln musste. Ich habe improvisiert.«
»Was hat mein Mann über diesen Ort herausgefunden?«
»Nichts.«
»Und dann hast du dich als mein Lebensretter ausgegeben, mein
Vertrauen ausgenutzt, mir Märchen über deine Beziehung zu meinem Mann erzählt.«
Du bist mit mir ins Bett gegangen, hast so getan, als würdest du wirklich etwas
für mich empfinden!, wollte sie schon hinzufügen, ließ es aber bleiben. »Und
das nur, um an das Foto von dem Priester mit der Narbe an der Schläfe zu
kommen.«
»Ja, ich habe dir was vorgemacht, aber du mir auch. Ich wusste, dass
du mich anlügst, mir nicht alle Fotos gezeigt hast. Ich kenne mich mit Lügnern
aus, schon vergessen? Du und der Priester, ihr habt eine Art Abmachung,
stimmt’s? Du hoffst, dass er dir hilft, die Wahrheit über Davids Mörder herauszufinden.«
Sandra war wütend. »Deshalb bist du mir gefolgt: um zu sehen, ob ich
mich weiterhin mit ihm treffe!«
»Ich bin dir auch gefolgt, um dich zu beschützen.«
»Hör auf damit!«, sagte Sandra angewidert. »Ich will keine Lügen
mehr hören.«
»Eines musst du dir allerdings schon noch anhören.« Schalber
reagierte jetzt ebenfalls schroff. »Derjenige, der deinen Mann getötet hat, war
ein Pönitenziar.«
Sie war erschüttert, ließ sich aber nichts anmerken. »Das passt dir
jetzt so in den Kram, was? Und das soll ich dir
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