Der Seelensammler
überraschend gekommen, insgeheim hatte
sie es erwartet.
Das ist doch verrückt!, dachte sie. Es war ein Unfall. Ein Unfall!
Dann beruhigte sie sich wieder. Sie sah sich um: Das Regal mit
Davids Büchern. Die sich auf dem Schreibtisch stapelnden Päckchen mit
Aniszigaretten. Das billige Rasierwasser auf der Badezimmerkonsole. Der Stuhl
in der Küche, auf dem er sonntags Zeitung las.
Die erste Lektion, die Sandra Vega gelernt hatte, war, dass Häuser
niemals lügen. Hier in Oslo ist es schweinekalt, und ich
kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen . Aber vielleicht log
ihr Zuhause, denn David war in Rom gestorben.
23 Uhr 36
Der Tote wachte auf.
Um ihn herum war es dunkel. Ihm war kalt, er hatte jede Orientierung
verloren, und er hatte Angst. Trotzdem kam ihm die Situation seltsam bekannt
vor.
Er erinnerte sich an den Schuss, an den Geruch nach Schießpulver,
nach verbranntem Fleisch. An die Muskeln, die gleichzeitig erschlafften und ihn
zu Boden gehen ließen. Er merkte, dass er die Hand ausstrecken konnte, und tat
es. Er hätte sich eigentlich in einer Blutlache wiederfinden müssen, ja, er
hätte tot sein müssen, aber dem war nicht so.
Das Wichtigste war der Name.
»Ich heiße Marcus«, sagte er sich.
In diesem Moment brach die Wirklichkeit über ihn herein und rief ihm
wieder in Erinnerung, warum er noch am Leben war. Dass er zu Hause in Rom im
Bett lag und bis vor Kurzem geschlafen hatte. Er hatte furchtbares Herzrasen,
war nassgeschwitzt und rang mühsam nach Luft.
Wieder einmal hatte er den Traum überlebt.
Um nicht in Panik zu geraten, ließ er normalerweise das Licht
brennen. Doch diesmal hatte er es vergessen. Der Schlaf musste ihn ganz
plötzlich übermannt haben, denn er war noch angezogen. Er betätigte den
Lichtschalter und sah auf die Uhr. Er hatte höchstens fünfundzwanzig Minuten
geschlafen.
Aber das hatte gereicht.
Er nahm den Stift, den er neben das Kissen gelegt hatte, und schrieb
damit etwas an die Wand: »Berstendes Glas.«
Die weiße Wand neben dem Metallbett war sein Tagebuch. Ein kahler
Raum umgab ihn. Dieser Dachboden in der Via dei Serpenti war der Ort ohne
Gedächtnis, an dem er wohnen wollte, um sich zu erinnern. Zwei Zimmer. Bis auf
das Bett und eine Lampe gab es keinerlei Möbel. Seine Kleider lagen in einem
Koffer auf dem Boden.
Jedes Mal, wenn er aus diesem Traum erwachte, nahm er etwas anderes
mit: ein Bild, ein Wort, ein Geräusch. Diesmal war es das Geräusch von
berstendem Glas.
Aber welches Glas war das?
Momentaufnahmen einer Szene, immer der gleichen. Er schrieb alles an
die Wand. Im letzten Jahr hatte er so zahlreiche Details zusammengetragen, aber
noch reichten sie nicht aus, um den Vorfall in dem Hotel zu rekonstruieren.
Er wusste mit Sicherheit, dass er dort gewesen war, zusammen mit
Devok, seinem besten Freund: dem Menschen, der alles für ihn getan hätte. Er
war ihm verängstigt, verwirrt erschienen. Warum, wusste er nicht, aber es
musste etwas Schlimmes vorgefallen sein. Vielleicht wollte Devok ihn warnen.
Aber sie waren nicht allein. Es war noch ein Dritter im Raum.
Noch war er nur ein undeutlicher Schatten, nicht mehr als ein vager
Umriss. Von ihm ging die Bedrohung aus. Es war ein Mann, dessen war er sich
sicher. Aber er wusste nicht, wer es war. Warum war er dort? Er hatte eine
Pistole dabei, und irgendwann hatte er sie gezogen und das Feuer eröffnet.
Devok war getroffen worden. Er war gegen ihn gefallen wie in Zeitlupe.
Die Augen, die ihn während des Sturzes fixierten, waren bereits ausdruckslos.
Die Hände fassten sich auf Herzhöhe an die Brust. Schwarzes Blut spritzte
zwischen seinen Fingern hervor.
Ein zweiter Schuss war gefallen, und fast gleichzeitig hatte er das
Mündungsfeuer gesehen. Dann hatte ihn die Kugel erreicht. Vage hatte er ihren
Aufprall am Schädel gespürt, gehört, wie der Knochen splitterte. Er hatte den
Fremdkörper gespürt, der sich wie ein dicker Finger in sein Gehirn bohrte, und
anschließend das warme, ölige Blut.
Dieses schwarze Loch in seinem Kopf hatte alles verschluckt: seine
Vergangenheit, seine Identität, seinen besten Freund. Aber vor allem das
Gesicht seines Feindes.
Denn das, was Marcus wirklich quälte, war sein Unvermögen, sich an
denjenigen zu erinnern, der ihm das angetan hatte.
Doch wenn ihm das gelingen sollte, musste er paradoxerweise
versuchen, sich nicht mehr zu erinnern. Wenn er für
Gerechtigkeit sorgen wollte, musste er wieder zu dem Marcus von früher werden.
Und dann durfte
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