Der Seelensammler
dieser Schalber war – er klang wie ein halbwüchsiger Junge. »Bitte
verzeihen Sie, aber ich konnte nicht anders: Wenn mir eine Frage durch den Kopf
geht, muss ich sie loswerden, sonst verbringe ich eine schlaflose Nacht. Kennen
Sie das?«
Sandra wusste nicht recht, was sie von diesem Ton halten sollte.
Hatte der Mann etwas gegen sie, oder war er einfach nur respektlos? Sie
beschloss, es kurz zu machen: »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir haben eine Akte über den Tod Ihres Mannes angelegt. Mir fehlen
da noch ein paar Informationen.«
Sandra runzelte die Stirn. »Es war ein Unfall.«
Schalber schien diese Reaktion erwartet zu haben, denn er erwiderte
ungerührt: »Ich habe den Polizeibericht gelesen. Warten Sie einen Moment …«
Sandra hörte, wie Schalber in dem Bericht blätterte.
»Hier steht, dass Ihr Mann aus dem fünften Stock gestürzt ist, den
Sturz jedoch überlebt hat und Stunden später seinen Brüchen und inneren
Blutungen erlegen ist …« Er verstummte. »Das muss hart für Sie sein. So etwas
steckt man nicht so leicht weg.«
»Sie ahnen ja nicht, wie hart das für mich
ist.« Das war ihr einfach so herausgerutscht, in einem eiskalten Tonfall. Sandra
hasste sich dafür.
»Glaubt man der Polizei, hat sich Herr Leoni in diesem Rohbau
aufgehalten, weil er von dort aus etwas fotografieren wollte.«
»Das ist korrekt.«
»Kennen Sie den Ort?«
»Nein«, erwiderte sie gereizt.
»Nun, ich bin dort gewesen.«
»Und was wollen Sie mir damit sagen?«
Schalber schwieg einen Moment zu lange. »Die Canon Ihres Mannes ging
bei dem Sturz zu Bruch. Zu schade, dass wir sein letztes Foto niemals zu sehen bekommen
werden!«, bemerkte er zynisch.
»Seit wann kümmert sich Interpol um Unglücksfälle mit Todesfolge?«
»Nun, so außergewöhnlich ist das nicht. Aber mich interessieren
nicht nur die Umstände, unter denen Ihr Mann zu Tode gekommen ist.«
»Sondern?«
»Es gibt da noch zwei offene Fragen. Wie ich erfahren habe, hat man
Ihnen das Gepäck von Herrn Leoni zugeschickt.«
»Zwei Seesäcke.« Allmählich wurde sie wütend, aber das war
wahrscheinlich von ihrem Gesprächspartner beabsichtigt.
»Ich habe eine Gepäckdurchsuchung beantragt, doch leider zu spät.«
»Warum? Was interessiert Sie so daran?«
Der Anrufer schwieg einen Moment. »Ich bin nicht verheiratet, habe
aber schon ein paarmal daran gedacht.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Ich weiß nicht, ob das etwas mit Ihnen zu tun hat. Aber wenn man
sein Leben jemandem anvertraut hat, jemand so Besonderem wie einem Ehepartner …
Nun, dann hört man auf, sich bestimmte Fragen zu stellen. Man fragt sich zum Beispiel
nicht mehr, was der andere so treibt, wenn man nicht dabei ist. So etwas nennt
man Vertrauen. Doch in Wahrheit ist es manchmal nur Angst. Angst vor der Antwort.«
»Und welche Fragen hätte ich David Ihrer Meinung nach stellen
sollen?« Doch Sandra wusste genau, wovon er sprach.
Schalber wurde schalberernst. »Jeder von uns hat Geheimnisse,
Agentin Vega.«
»Ich kenne zwar nicht jedes Detail aus Davids Leben, aber ich weiß,
was für ein Mensch er war. Und das genügt mir.«
»Ja, aber haben Sie sich nie gefragt, ob er Ihnen die Wahrheit
sagt?«
Jetzt war Sandra wütend: »Hören Sie, es bringt nichts, mir Zweifel
einzureden.«
»Nein, das stimmt. Denn die haben Sie bereits.«
»Sie wissen doch gar nichts über mich!«, protestierte sie.
»Die Seesäcke, die Ihnen vor fünf Monaten zugeschickt wurden,
befinden sich nach wie vor in der Asservatenkammer Ihres Reviers. Warum haben
Sie sie nie abgeholt?«
Sandra lachte verbittert auf. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu
erklären, wie schmerzhaft das für mich sein wird. Denn dann muss ich mir
endgültig eingestehen, dass alles vorbei ist, dass David niemals wiederkommen
wird und dass ich nichts daran ändern kann!«
»Das ist doch Unsinn, und das wissen Sie genau.«
Das fehlende Taktgefühl dieses Menschen verschlug ihr die Sprache.
Als sie endlich wieder etwas sagen konnte, schrie sie empört: »Schalber? Sie können
mich mal!«
Wutentbrannt brach sie das Gespräch ab. Sie griff nach dem leeren
Glas – dem ersten Gegenstand in Reichweite – und warf es gegen die Wand. Dieser
Mann hatte kein Recht dazu! Es war ein Fehler gewesen, ihm überhaupt so lange
zuzuhören. Sie stand auf und lief nervös im Zimmer auf und ab. Aber auch wenn
sie sich das bisher nicht eingestanden hatte – Schalber hatte recht: Sie hatte
Angst. Das Telefonat war nicht völlig
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