Der Seelensammler
Davids Kalender
mit den seltsamen Adressen und das Aufnahmegerät darauf. Mit Klebeband
befestigte sie die fünf von ihr entwickelten Leica-Fotos an der Wand. Das erste
war das von der Baustelle, das ja bereits Verwendung gefunden hatte. Übrig
blieben das vollkommen dunkle Bild, das sie trotzdem behalten hatte; das von
dem Mann mit der Narbe an der Schläfe; der Gemäldeausschnitt; und das Foto
ihres Mannes, der die Hand zum Gruß hob, während er sich gleichzeitig mit
nacktem Oberkörper vor dem Spiegel fotografierte.
Sandra drehte sich zum Badezimmer um. Das letzte Foto war genau hier
aufgenommen worden.
Auf den ersten Blick hätte das Motiv ein typischer Gag von David
sein können, so wie damals, als er ihr Fotos von einer gegrillten Anakonda aus
Borneo geschickt hatte. Oder das Bild, auf dem er in einem australischen Sumpf
stand und mit Blutegeln bedeckt war.
Doch im Gegensatz zu den anderen Fotos war David auf diesem hier
todernst.
Vielleicht hatte das, was ihr erst vorgekommen war wie die traurige
Abschiedsgeste eines Gespensts, eine ganz andere Bedeutung? Vielleicht hatte
David etwas für sie in diesem Hotelzimmer versteckt?
Sie begann mit der Durchsuchung. Sie verrückte die Möbel, suchte
unter dem Bett und im Schrank. Sorgfältig tastete sie die Matratze und die
Kissen ab. Sie öffnete die Gehäuse von Telefon und Fernseher und schaute
hinein. Sie kontrollierte die Bodenfliesen und Bodenleisten. Schließlich inspizierte
sie das Bad.
Abgesehen davon, dass es nicht besonders gründlich geputzt war,
konnte sie nichts Auffälliges entdecken.
Fünf Monate waren vergangen. Vielleicht war in der Zwischenzeit
etwas verstellt oder entfernt worden. Sie verfluchte sich erneut, dass sie so
lange mit der Untersuchung von Davids Seesäcken gewartet hatte.
Nach wie vor nur mit einer Unterhose bekleidet, saß sie auf dem
Boden. Als ihr kalt wurde, legte sie sich die verblichene Tagesdecke um die
Schultern und blieb einfach so sitzen. Sie versuchte sich von ihrer
Enttäuschung nicht unterkriegen zu lassen. In diesem Moment klingelte ihr
Handy.
»Und, haben Sie meinen Rat befolgt, Kollegin Vega?«
Sie brauchte einen Moment, bis sie den deutschen Akzent und den
unverschämten Tonfall wiedererkannte.
»Schalber, Sie haben mir gerade noch gefehlt!«
»Befindet sich das Gepäck Ihres Mannes noch in der Asservatenkammer,
oder kann ich einen Blick darauf werfen?«
»Wenn es sich um ein laufendes Ermittlungsverfahren handelt,
besorgen Sie sich doch einen richterlichen Durchsuchungsbefehl.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass Interpol den Polizeibeamten
eines Landes nur assistieren darf. Ich möchte Ihre Kollegen nur ungern damit
belästigen. Außerdem würde ich Ihnen die Unannehmlichkeiten gern ersparen.«
»Ich habe nichts zu verbergen.« Der Mann konnte einem wirklich auf
die Nerven gehen!
»Wo sind Sie gerade, Sandra? Ich darf Sie doch Sandra nennen, nicht
wahr?«
»Nein. Und Letzteres geht Sie überhaupt nichts an.«
»Ich bin in Mailand. Wir könnten uns auf einen Kaffee treffen.«
Sandra durfte ihn auf keinen Fall wissen lassen, dass sie in Rom
war. »Warum nicht? Wie wär’s mit morgen Nachmittag? Dann können wir die Sache
endlich hinter uns bringen.«
Schalber brach in lautes Gelächter aus. »Ich sehe schon, wir
verstehen uns!«
»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen! Ich mag Ihre Art nicht besonders.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie einen Vorgesetzten gebeten haben,
Erkundigungen über mich einzuholen.«
Sandra schwieg.
»Zu Recht! Und der wird Ihnen sagen, dass ich nicht so schnell
lockerlasse.«
Dieser Satz klang wie eine Drohung, doch sie durfte sich nicht
einschüchtern lassen. »Sagen Sie, Schalber, wie sind Sie eigentlich bei
Interpol gelandet?«
»Ich war bei der Wiener Polizei. Bei der Mordkommission, bei der
Antiterroreinheit, bei der Drogenfahndung: überall ein bisschen. Irgendwann
wurde man auf mich aufmerksam, und dann hat mich Interpol geholt.«
»Und womit beschäftigen Sie sich genau?«
Schalber machte eine lange Kunstpause, danach war jeder scherzhafte
Unterton verflogen. »Ich beschäftige mich mit Lügnern.«
Sandra schüttelte amüsiert den Kopf. »Wissen Sie was? Eigentlich
müsste ich jetzt sofort auflegen. Aber ich bin trotzdem neugierig auf das, was
Sie mir zu sagen haben.«
»Ich möchte Ihnen gern etwas erzählen.«
»Wenn Sie sich das partout nicht verkneifen können …«
»Ich hatte einen Kollegen in Wien; wir haben gegen eine
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