Der Seelensammler
kleinen blutigen Fußabdrücke auf dem weißen Schlafzimmerteppich gesehen
hatte, war er nicht mehr in der Lage gewesen, sich ausschließlich auf sie zu
konzentrieren.
Es gibt immer einen Grund, warum jemand Aufmerksamkeit erregt,
dachte er. Ihm konnte das nicht passieren, denn er war unsichtbar. Valeria
dagegen hatte im Rampenlicht gestanden.
Das Wort EVIL auf der Wand hinter dem Bett. Die zahlreichen
Messerstiche, die den Opfern zugefügt wurden. Die Tatsache, dass die Mörder in
die Wohnung eingedrungen waren. All das diente dazu, besondere Aufmerksamkeit
zu erregen. Die Tat war spektakulär, und das nicht nur, weil eine High-Society-Lady
und ihr nicht minder bekannter Liebhaber die Opfer waren. Sondern auch wegen
der Art, wie sie ausgeführt wurde.
Ganz so, als wäre sie für die Klatschpresse inszeniert worden,
obwohl kein Paparazzo zugegen gewesen war.
Ein Horrorfilm.
Marcus setzte sich im Bett auf. Irgendetwas keimte in seinem
Bewusstsein. Auffälligkeiten. Er machte das Licht an
und hob Valeria Alfieris Akte vom Boden auf.
Der wohlklingende Name stammte vom Ehemann, vorher hatte sie
Colmetti geheißen, was nicht ganz so nach Jetset klang. Sie stammte aus einer
kleinbürgerlichen Familie, der Vater ein einfacher Angestellter. Sie hatte auf
Lehramt studiert, aber ihr wahres Talent war ihre Schönheit. Eine natürliche
Begabung, mit der sie den Männern den Kopf verdrehte. Mit zwanzig hatte sie
versucht, beim Film Karriere zu machen, hatte es aber nur zu ein paar
Komparsenrollen gebracht. Marcus konnte sich vorstellen, dass viele Männer
versucht hatten, sie mit dem Versprechen, ihr eine wichtige Rolle zu verschaffen,
ins Bett zu bekommen. Vielleicht war Valeria anfangs sogar auf diese Avancen
eingegangen. Wie viele zweideutige Komplimente, wie viele unerwünschte
Berührungen und wie viel lustlosen Sex hatte sie wohl in der Hoffnung ertragen,
ihren Traum verwirklichen zu können?
Und dann war eines Tages Guido Altieri in ihr Leben getreten. Ein
gut aussehender Mann und nur wenige Jahre älter als sie. Ein Mann aus einer
bekannten, hoch angesehenen Familie. Ein Anwalt mit einer sicheren Zukunft.
Valeria wusste, dass sie nicht treu sein konnte. Und tief in seinem Innern
wusste auch Guido, dass diese Frau ihm nie wirklich ganz gehören würde. Dafür
war sie viel zu egoistisch und zu eitel. Sie fand sich einfach zu schön für
einen Mann allein. Dennoch machte er ihr einen Heiratsantrag.
Und das war erst der Anfang, sagte sich Marcus, während er aufstand,
um sich Papier und Bleistift für ein paar Notizen zu holen. Die Hochzeit war
nur der erste Akt einer Reihe vermeintlich glücklicher, beneidenswerter Szenen,
die jedoch in letzter Konsequenz zu dem Gemetzel im Schlafzimmer geführt
hatten.
Marcus fand einen Block. Auf das erste Blatt zeichnete er das
Dreieckssymbol. Auf das zweite schrieb er EVIL.
Valeria Altieri verkörperte den Traum vom Unerreichbaren. Unser
Verlangen – vor allem wenn es unkontrollierbar wird – reißt uns zu Taten hin,
zu denen wir uns niemals in der Lage glaubten. Es korrumpiert und beschmutzt
uns, und manchmal treibt es uns sogar bis zum Mord. Vor allem, wenn es sich in
etwas viel Gefährlicheres verwandelt.
In Besessenheit, dachte Marcus, was ihn wieder zu Raffaele Altieri
brachte.
Wenn der Junge schon von einer Mutter besessen war, die er kaum
gekannt hatte, war es einem anderen mit dieser Frau vielleicht ähnlich
ergangen. Und was war die einzige Lösung in so einem Fall? Marcus fürchtete
sich vor der Antwort und flüsterte sie leise vor sich hin. Sie bestand nur aus
einem einzigen Wort.
»Vernichtung.«
Das Objekt der Begierde, von dem man derart besessen ist, muss
vernichtet werden, damit es einem nicht mehr wehtun kann. Nie mehr! Und in
manchen Fällen reicht es nicht aus, einen anderen einfach nur zu ermorden.
Marcus riss die beiden ersten Blätter mit dem Symbol und dem Wort
aus dem Notizblock. Er behielt sie in der Hand, sah von einem Blatt zum anderen
und hoffte, so auf die Lösung des Rätsels zu kommen.
Plötzlich spürte er, dass ihn jemand von hinten beobachtete. Er fuhr
herum, doch es war nur sein Spiegelbild im Fenster. Nur wandte sich der Mann,
der es hasste, sich im Spiegel zu betrachten, diesmal nicht gleich wieder ab.
Er las die Schrift, die sich ebenfalls spiegelte – EVIL, das Böse –,
aber eben spiegelverkehrt.
»Ein Horrorfilm«, sagte er erneut vor sich
hin. Da begriff er, dass der Schrei der Frau aus Ranieris Büro keine
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