Der Seelensammler
Klanghalluzination
gewesen war, sondern echt.
Die große rote Ziegelvilla im vornehmen Olgiata-Viertel
lag vollständig im Grünen. Sie war von englischem Rasen umgeben und hatte einen
Swimmingpool. Das zweistöckige Gebäude war hell erleuchtet.
Marcus nahm die breite Allee, die zum Eingang führte. Nur wenige
Auserwählte wurden in dieses Anwesen vorgelassen. Aber für ihn war es ein
Leichtes gewesen, sich Zutritt zu verschaffen. Keine Alarmanlage war
losgegangen, kein privater Wachdienst war herbeigeeilt. Und das konnte nur
eines bedeuten.
Er wurde bereits in der Villa erwartet.
Die Glastür stand offen. Marcus trat ein und fand sich in einem
eleganten Wohnzimmer wieder. Keine Stimme, kein Geräusch. Rechts von ihm führte
eine Treppe nach oben. Er ging sie langsam hinauf. Oben brannte kein Licht,
aber aus einem Zimmer am Ende des Flurs drang der Schein eines Kaminfeuers.
Marcus ging darauf zu, denn dort würde er finden, wonach er suchte.
Der Mann befand sich in seinem Arbeitszimmer. Er saß in einem
Ledersessel, hatte der Tür den Rücken zugekehrt und hielt ein Cognacglas in der
Hand. Neben ihm brannte der Kamin. Vor ihm stand wie in Ranieris Büro die
seltsame Kombination aus Flachbildfernseher und Videorekorder.
Der Mann wusste, dass er nicht mehr allein war. »Ich habe alle
fortgeschickt. Außer uns ist niemand mehr im Haus.« Guido Altieri schien die
Sache pragmatisch angehen zu wollen.
»Wie viel wollen Sie?«
»Ich will kein Geld.«
Der Anwalt drehte sich um. »Wer sind Sie?«
Marcus erstarrte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre es mir
lieber, Sie würden mir nicht ins Gesicht sehen.«
Altieri gehorchte. »Sie wollen mir also nicht sagen, wer Sie sind.
Aber Geld wollen Sie auch nicht. Was führt Sie dann zu mir?«
»Ich möchte verstehen.«
»Wenn Sie den Weg hierher gefunden haben, wissen Sie doch bereits
alles.«
»Noch nicht. Haben Sie vor, mir zu helfen?«
»Warum?«
»Weil Sie dann nicht nur Ihr Leben, sondern auch das einer
Unschuldigen retten können.«
»Ich höre.«
»Auch Sie haben eine anonyme Botschaft erhalten, nicht wahr? Ranieri
ist tot, die beiden Auftragsmörder wurden erschossen und anschließend
verbrannt. Und jetzt fragen Sie sich, ob ich Ihnen die Botschaft geschickt
habe.«
»In der, die ich erhalten habe, wurde mir für heute Abend Besuch
angekündigt.«
»Aber von mir stammt sie nicht, und ich bin auch nicht gekommen, um
Ihnen etwas anzutun.«
Das Kristallglas in Altieris Hand reflektierte das Kaminfeuer.
Marcus machte eine Pause, bevor er auf den Punkt kam. »Beim Mord an
einer Ehebrecherin ist der Hauptverdächtige stets der Ehemann.« Er zitierte
Clemente, auch wenn ihm das anfangs viel zu naheliegend erschienen war. »Der
Mord am Vorabend eines Feiertags und dann noch in einer Neumondnacht … All das
war Zufall.« Manchmal lassen sich die Menschen von ihrem Aberglauben leiten,
dachte Marcus. Um jeden Zweifel auszuräumen, sind sie bereit, alles Mögliche zu
glauben. »Es gab kein Ritual und keine Sekte. EVIL, der Schriftzug über dem
Bett, war keine Drohung, sondern ein Versprechen … Denn spiegelverkehrt gelesen
heißt das LIVE. Vielleicht sollte das ein Scherz sein, vielleicht auch nicht …
Auf jeden Fall war es eine Botschaft, die bis nach London gelangt ist, wo Sie
sich aufgehalten haben. Der Auftrag war wie gewünscht ausgeführt worden, und
Sie konnten wieder nach Hause zurück … Die Zeichen auf dem Teppich, das
esoterische Dreieck – das war kein Symbol. Irgendetwas hatte in der Blutlache
neben dem Bett gestanden und war dann verstellt worden, mehr nicht. Etwas mit
drei Beinen und einem Auge: eine auf ein Stativ montierte Videokamera.
Marcus musste wieder an den Schrei der Frau denken, der aus Ranieris
Büro gekommen war. Das war keine Klanghalluzination gewesen, sondern Valeria
Altieri. Der Schrei war von der Videokassette gekommen, die der Privatdetektiv
in seinem Safe aufbewahrte und die er sich angesehen hatte, bevor er sie in der
Ledertasche fortbrachte.
»Ranieri hat den Mord organisiert, Sie haben ihn nur damit
beauftragt. Aber nach den anonymen Briefen und den Leichen musste der
Privatdetektiv davon ausgehen, dass noch jemand die Wahrheit kennt. Er fühlte
sich in die Enge getrieben, befürchtete, verhaftet zu werden. Er hatte eine
Riesenangst, ist in sein Büro zurückgeeilt und hat die anonyme Botschaft verbrannt.
Wenn es jemandem gelungen war, die Auftragsmörder nach fast zwanzig Jahren zu identifizieren,
hatte er vielleicht
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