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Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Titel: Der Seerosenteich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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frühen Abend das Gebäude. Die anderen Mitarbeiter waren längst weg, Carl blieb allein zurück. Er stromerte durch die Büros, schnüffelte auf den Schreibtischen herum, entdeckte den einen oder anderen Mißstand, kritzelte mit einem dicken Stift (er benutzte nur dicke Stifte) und in schwungvoller Schrift in sein Notizbuch ein paar Bemerkungen und ging dann über die knarzende Holztreppe hinauf in die Lagerräume, die sich auf drei Stockwerke verteilten.
    Das Speicherhaus mit seiner denkmalgeschützten Fassade, dem Hafenblick und dem ganz eigenen Geruch war sein ganzer Stolz. Er liebte es wie ein Vater sein Kind, wie ein Kind sein Spielzeug. Im Erdgeschoß waren die Büroräume untergebracht. Das Chefzimmer – seine zehn Mitarbeiter hatten ihm zum Firmenjubiläum ein Messingschild mit der Aufschrift «Chefzimmer» geschenkt und an seiner Tür angebracht – war rundum getäfelt. Darin stand ein häßlicher alter Schrank, von der Art, wie sie um die Jahrhundertwende viele deutsche Wohnzimmer zierten, ein dazu passender Schreibtisch und ein Armlehnstuhl. An den Wänden hingen Rahmen mit Hamburg-Fotos – die Speicherstadt um 1890, der Hafen in den zwanziger Jahren, der Rathausmarkt zur selben Zeit. Auf den Fensterbänken standen Firmenwimpel und Miniaturausgaben der Flaggen fremder Länder, die Carl Trakenberg belieferten. Alles war tipptopp aufgeräumt. Von kreativem Chaos hielt er, zumindest im Büro, nichts. Auf seinem Schreibtisch lagen niemals irgendwelche unerledigten Vorgänge. Eine Tischlampe mit Milchglasschirm, ein Schreibtischset aus mit braunen Fäden durchzogenem schwarzem Marmor, das er von seinem Vater geerbt hatte, ein Telefonapparat: das war alles.
    Jetzt ging er im obersten Stockwerk an eine der Luken, um zu überprüfen, ob die Tür tatsächlich verschlossen war. Sie war es nicht. Er schob den unteren und oberen Riegel in die Vertiefungen im Mauerwerk, legte die Kette vor und nahm sich vor, morgen den Lagermeister zu verwarnen. Dann sah er kurz auf die Uhr und stellte fest, daß es bereits acht war. Eilig verließ er den Speicher, knipste das Licht aus, ging hinunter in sein Büro und rief seine Frau an. «Ich komme jetzt nach Hause!» erklärte er.
    Charlotte war schlechter Laune, das schien heute so ein Tag für schlechte Stimmungen bei den Frauen zu sein: «Schön, daß man auch mal was von dir hört. Bist du noch bei Puppe?»
    «Im Büro.»
    «Aber du weißt schon, daß heute unsere neue Haushälterin eingezogen ist? Es wäre nett gewesen, wenn du sie auch begrüßt hättest.»
    «Das habe ich vergessen, tut mir leid, Charlotte. Aber das Haus ist nun einmal deine Domäne.»
    «Ich wüßte gern, was deine Domäne ist. Außer, es dir gutgehen zu lassen.»
    «Also, ich fahre dann jetzt los.»
    «Und deine Tochter hätte ihrem Vater auch gern gute Nacht gesagt.»
    «Ich beeile mich.» Carl legte den Hörer auf und blickte aus dem Fenster. Haben wir Vollmond? dachte er. Es war noch hell. Ein schöner Sommerabend. Wie gern würde er jetzt mit Puppe irgendwo draußen sitzen, einen Wein trinken und dem Sonnenuntergang zusehen.
    Keine zwei Minuten später hatte er das Büro verlassen, fuhr am Fleet entlang, passierte das Zollhäuschen, lenkte seinen Mercedes am Bismarckdenkmal vorbei, über die Reeperbahn in Richtung Elbvororte. Im Glauben, die Strecke zu verkürzen, wählte Carl Umwege durch einige Seitenstraßen, die parallel zur Elbchaussee lagen. Plötzlich stotterte der Wagen.
    Carl war irritiert. Das Auto glich ihm an Zuverlässigkeit, es hatte noch nie versagt. Er wechselte den Gang, gab etwas mehr Gas, doch die Geschwindigkeit ließ nach. Carl konnte gerade noch auf einen Seitenparkplatz ausweichen, dann blieb der Wagen stehen.
    «Verdammt!» murmelte er. «Das gibt's doch nicht!» Er sah auf den Tachometer und die anderen Anzeigefelder auf dem Armaturenbrett. Dann entdeckte er das Problem. Der Tank war leer. Wütend schlug Carl mit beiden Händen auf das Lenkrad. Wie war das möglich? Wie konnte ihm so etwas passieren? So etwas Lächerliches. Er stieg aus. Wo war hier in der Nähe eine Tankstelle? War er nicht eben, ein paar Ecken zurück, an einer vorbeigefahren? Er öffnete den Kofferraum. Kein Reservekanister. Der stand daheim, im Kutscherhaus. So war es immer. Carl schloß den Wagen ab und machte sich zu Fuß auf den Weg.
    Wind kam auf, es bewölkte sich auf einmal und wurde dunkler. Er ging schneller. Ihm fiel die Strophe des Ringelnatz-Gedichts über zwei Ameisen ein, die nach Australien

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