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Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Titel: Der Seerosenteich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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seine Aktentasche und das Kleid für Charlotte heraus. Eben wollte er auf das Haus zugehen, als er nach ein paar Schritten stehenblieb. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und drehte sich um. Tatsächlich: oben am Fenster des Kutscherhauses stand ein Mädchen und schaute hinaus. Die beiden sahen sich eine Weile an. Carl war ein paar Sekunden ratlos. Dann fiel es ihm wieder ein: Das mußte die Tochter der neuen Haushälterin sein. Er lächelte. Sie verzog keine Miene. Er winkte, nickte mit dem Kopf und ging davon.
    Isabelle trat vom Fenster zurück und vergaß für einen Moment, daß sie todunglücklich war. Das mußte Herr Trakenberg gewesen sein. Wie er gelächelt hatte! Sie war allein in der Wohnung. Ihre Mutter war drüben bei Gretel. Überall standen noch Koffer, Taschen und Umzugskisten herum. Alles wirkte ungemütlich, fremd. Es war so anders als in Luisendorf, so abweisend, so bedrohlich. Isabelle war zum Heulen zumute. Man nannte das Heimweh, hatte ihr Gretel erklärt, das sei am Anfang immer so.
    Barfuß und mit einem knöchellangen Nachthemd bekleidet, ging Isabelle durch die Wohnstube, strich über diesen und jenen Gegenstand und betrat schließlich ihr Zimmer. Dort setzte sie sich auf das Bett, das Gretel ihr bezogen hatte und das so frisch duftete. Wie zu Hause. In diesem Moment fiel ihr wieder der Brief ein, den Jon ihr heute morgen zugesteckt hatte. Sie hatte ihn in die Schublade des Nachttisches gelegt. Jetzt nahm sie ihn heraus und riß den Umschlag auf. Ein karierter Bogen, der aus einem Schulheft herausgerissen worden war, kam zum Vorschein. Sie las:
    Liebe Isabelle! Was auch passiert: ich bin immer für Dich da. Vergiß mich nie.
    Dein Jon
    Das Dein war zweimal mit rotem Kugelschreiber unterstrichen. Sie faltete den Brief wieder zusammen. Als sie ihn in den Umschlag zurückstecken wollte, bemerkte sie, daß noch etwas darin lag. Vorsichtig schüttelte sie ihn, mit der Öffnung nach unten. Heraus glitt die gepreßte, getrocknete, wolkenweiße Blüte einer Seerose.

Kapitel 5
    Der erste Winter in Hamburg war für Isabelle voller Wunder und Überraschungen. Sie hatte sich in ihrem neuen Zuhause gut eingelebt. Das Stadtleben gefiel ihr sogar besser als das Leben auf dem Lande. Isabelle hatte das Gefühl, in einer Großfamilie zu wohnen. Wenn ihre Mutter zu streng mit ihr war, konnte sie sich in der warmen, gemütlichen Küche bei Gretel ausweinen. Gretel war für sie so etwas wie eine Freundin geworden.
    «Nun hör mal auf, ewig Tante zu mir zu sagen. Das macht mich nur älter. Nenn mich Gretel. Wie deine Mutter. Du bist ja nun auch fast groß, nicht?» hatte Gretel zu ihr eines Nachmittags gesagt, als sie am Küchentisch saß und ihre Hausaufgaben machte, und Isabelle liebevoll einen Becher heißen Kakao und ein Stück Sandkuchen hingestellt.
    Carl Trakenberg bekam Isabelle fast nie zu Gesicht. Seine Frau behandelte sie höflich, aber distanziert und ein wenig von oben herab. Manchmal sprach sie mit Isabelle wie mit einer zweiten Haushaltshilfe. «Das könntet ihr doch sehen, daß das Blumenwasser ausgewechselt werden muß. Es stinkt! Gott!»
    «Aber meine Mutter ...»
    «Deiner Mutter kannst du ruhig unter die Arme greifen, Kind, die hat genug zu tun, das siehst du ja. Also bitte: Blumen, die verwelkt sind, in den Müll, frisches Wasser rein. Das ist ja wohl für ein Mädchen in deinem Alter kein Problem, oder?»
    «Nein.» Isabelle tat, wie ihr befohlen wurde. Im stillen haßte sie Charlotte Trakenberg. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Das hatte ihre Mutter ihr eingebleut: «Ich möchte keinen Ärger mit den Trakenbergs, das sind nette, anständige Herrschaften, die uns nach dem Tod deines Vaters ein Dach über dem Kopf und mir Arbeit gegeben haben.»
    Am besten verstand sich Isabelle mit Vivien, der Tochter des Hauses. Mit dem gleichaltrigen Mädchen hatte sie sich geradezu angefreundet. Sie besuchten zwar verschiedene Schulen – Vivien ging auf das Gymnasium, Isabelle nun auf die Realschule –, aber die Nachmittage und Abende verbrachten sie häufig gemeinsam. Für Isabelle war es wie ein Glücksrausch, als Vivien ihr zum erstenmal anbot, doch «rüberzukommen». Jeder Tag, den sie im Spielzimmer der Trakenberg-Tochter verbringen durfte, war für sie ein Abenteuer. Sie spielten Malefiz. Sie guckten Fernsehen, was Ida überhaupt nicht recht war. Besonders gern sahen sie sich die Science-fiction-Reihe «Raumpatrouille» an, weil beide für den Hauptdarsteller Dietmar Schönherr

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