Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Vorankommen in der Stadt unmöglich machten, wenn Wasserleitungen zufroren, der Strom ausfiel, wenn ganze Randbezirke von der Außenwelt abgeschnitten waren, dann blitzte in dem Unglück auch immer ein klitzekleiner Moment von Freude auf – daß man den Widrigkeiten des Lebens nicht ganz und gar allein gegenüberstand.
«Geteiltes Leid ist halbes Leid», sagte Gretel und half Ida dabei, die Stufen und den Weg zum Souterrain zu fegen, während der Gärtner die Auffahrt freiräumte. Dabei erinnerte sie sich an die Flutkatastrophe von 1962 und daran, wie eine Hausfrau die andere angerufen und ihr geraten hatte, in alle verfügbaren Behältnisse Trinkwasser abzufüllen, weil es bald nichts mehr geben würde.
Isabelle und Vivien tobten, dick eingemummelt, durch den Garten. Obwohl sie sich eigentlich zu alt dafür vorkamen, fuhren sie mit ihren Schlitten kreischend den Hang hinunter, bis an den Rand des Grundstücks. An späten Nachmittagen, wenn es draußen dunkel geworden war, saßen die Freundinnen durchgefroren am Küchentisch, tranken heißen Fliederbeersaft mit Honig und kicherten dabei ganz ohne Grund, während sich Ida und Gretel bei einer Tasse Kaffee ausruhten und besprachen, was am nächsten Tag zu tun sei.
So überraschend, wie der Winter hereingebrochen war, so abrupt schien er zu enden. Das Tauwetter brachte graues Licht und Matsch mit sich und Dreck ins Haus. Ida schimpfte den ganzen Tag: «Zieht euch doch die Schuhe aus, Kinder, ich bitte euch. Isa! Du machst mir den ganzen Flur schmutzig. Das putzt du aber jetzt selber weg. Ich habe genug zu tun. Wahrhaftig!»
Die Mädchen beschlossen, sich aus dem Staub zu machen. Vivien hatte die Idee, solange der Winter noch nicht ganz vorbei war, Schlittschuh laufen zu gehen. Vivien kannte einen Park ganz in der Nähe, in dem es einen kleinen See gab. Die Mädchen schnappten sich ihre Schlittschuhe und machten sich auf den Weg. Als sie den Park erreicht hatten, war dort kein Mensch. Nicht einmal Kinder. Isabelle und Vivien setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm am Ufer und legten die Schlittschuhe an. Auf dem Eis hatte sich eine dünne Schicht Tauwasser gebildet.
«Vielleicht hält das Eis nicht mehr», meinte Isabelle.
«Ach was!» Vivien sprang auf. «Es hat doch die letzte Woche noch so doll gefroren ... nun komm, oder bist du feige?»
Noch ehe Isabelle antworten konnte, war ihre Freundin schon auf dem Eis. Mit ihren langen schwarzen Haaren, die sie sich zum Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, den flauschigen roten Ohrenschützern, ihrer wattierten Jacke, dem kurzen Faltenröckchen und der dicken, weißen Strumpfhose sah sie aus wie ein staksiger Storch, fand Isabelle.
Vivien legte sich sofort ins Zeug. Sie wollte Isabelle imponieren. Mit weit ausholenden Bewegungen lief sie bis zur Mitte des Sees. Dann blieb sie stehen, um zu sehen, ob die Freundin ihr zugeschaut hatte. Sie winkte mit den Armen. Isabelle folgte ihr, sehr vorsichtig, blieb jedoch dicht am Ufer stehen. Sie hatte keine Angst, aber sie wollte prüfen, ob die Eisschicht tatsächlich noch dick genug war. «Komm lieber zurück!» rief sie.
«Warum das denn?» Lachend drehte Vivien sich um und wollte weiterlaufen. In diesem Augenblick passierte es. Isabelle glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Das Eis ächzte, es krachte, es splitterte. Im Bruchteil von Sekunden und ohne aufzuschreien, versank Vivien. Isabelle sah ein Sprudeln und Platschen, ein Stück Eis flog hoch in die Luft. Ihre Freundin streckte nur noch die Hände aus dem Wasser. Isabelle war starr vor Entsetzen. Dann tauchte Vivien wieder auf. Wild um sich schlagend, versuchte sie, sich am Eis festzuhalten. Doch die Oberfläche verwandelte sich, grausam und unaufhaltsam, in ein Meer von knisternden, zerberstenden Eisstücken, wie das Glas einer Scheibe, die zerbrach. Gellend schrie Vivien um Hilfe. Immer und immer wieder. Isabelle löste sich aus ihrer Erstarrung, griff nach einem dicken Ast, der neben dem Baumstamm lag, und ging an den Rand des Sees. «Ich helfe dir!» rief sie, so laut sie konnte, und legte sich flach auf das Eis.
Vivien war ganz ruhig geworden. Man sah nur noch ihr Gesicht. Wie ein Karpfen schnappte sie nach Luft. Isabelle robbte langsam vorwärts, den Ast neben sich herziehend. Meter um Meter näherte sie sich Vivien. Beide ließen einander nicht mehr aus den Augen. Das Eis knirschte. Schließlich hatte Isabelle Vivien fast erreicht. Sie schob den Ast vor, so weit, bis sich dessen Ende in Griffnähe des
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