Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Mädchens befand.
«Faß an», sagte sie, «faß den Ast an.»
Vivien reagierte nicht. Sie war vor Panik und Kälte wie gelähmt. Isabelle bewegte sich noch ein paar Zentimeter vor. «Bitte!» flehte sie. «Vivi, bitte!»
Endlich tastete Vivien nach dem Ast, umfaßte ihn erst mit der linken, dann mit der rechten Hand. Isabelle bewegte sich rückwärts. Sie stemmte sich gegen das Eis und spürte, wie Nässe und Kälte durch ihre Kleidung drangen. Sie zog aus Leibeskräften. Tatsächlich gelang es ihr, Vivien aus dem Wasser herauszuziehen. Beide blieben einen Augenblick auf dem Eis liegen, wie um zu verschnaufen. Vivien klammerte sich an Isabelle fest. Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis die Mädchen, robbend, ziehend, rutschend, endlich das Ufer erreicht hatten. Isabelle rappelte sich auf, aber Vivien blieb schluchzend auf dem Boden liegen.
«Komm, du mußt jetzt sofort nach Hause. Sonst ...»
«Ich kann nicht.»
«Doch. Ich helfe dir.» Isabelle kniete sich hin und hob ihre Freundin sanft hoch, legte ihr den Arm um die Schultern und stützte sie, während sie, Schritt für Schritt, durch den Park nach Hause gingen.
Als sie eine halbe Stunde später durch das Eisentor traten, waren sie am Ende ihrer Kräfte. Keine von beiden sprach, keine von beiden weinte. Sie gingen einfach weiter, quer über den Rasen, die Stufen zum Souterrain hinunter, bis sie die Küche betraten.
Charlotte Trakenberg stand in einem quittengelben Wollkleid, auf der eine Diamantbrosche in Form eines Schmetterlings funkelte, neben Gretel, die am Küchentisch saß, und diktierte ihr die Wünsche für ein Abendessen, das am kommenden Samstag stattfinden sollte.
«Consommé ...»
Gretel kritzelte in ihrem Büchlein und wiederholte: «Consommé ...»
Die Mädchen blieben in der geöffneten Tür stehen. Die Frauen sahen auf.
«O Gott!» Charlotte stürzte auf ihre Tochter zu, die beinahe zusammenbrach und sich am Türrahmen festhielt. «O Gott. O Gott.»
Erschrocken stand Gretel auf.
Charlotte kniete vor Vivien nieder. «Himmel, Kind, was ist passiert?» Sie blickte nur kurz zu Isabelle hoch. «Mach die Tür zu, mein Gott, wir heizen doch nicht für den Garten! Nun rede schon, was ist passiert? Burmönken, das Kind zittert ja.» Sie erhob sich, schob Isabelle beiseite und führte ihre Tochter an den Tisch, wo sie sich setzten.
«Na, ich mach mal einen Tee», sagte Gretel, sah streng zu Isabelle hinüber und schüttelte nur den Kopf, während sie Wasser in den Kessel einlaufen ließ.
«Wir waren Schlittschuh laufen, ich bin eingekracht!» jammerte Vivien.
«Vivien muß sofort ins Bett!» befahl Gretel. Sie knallte den Kessel auf den Herd und schaltete auf Stufe drei.
«Wie kann denn so was passieren? Ach, meine arme Süße! Wessen Idee war denn das?»
Vivien hob den Kopf und drehte ihn langsam zur Seite. Ihr Blick glich dem eines Hundes, der etwas ausgefressen hat und Mitleid erheischen will. Aber es lag noch etwas mehr darin. Sie sah zu Isabelle hin, die blaß in der Ecke stand.
«Das hätte ich mir ja denken können!» Charlotte erhob sich wutschnaubend. «Solche Ideen kann auch nur dieses Mädchen meinem Kind in den Kopf setzen. Unverantwortlich! Das ist Schiffbruch auf der ganzen Linie!» Sie zog Vivien sanft hoch, während sie ihr die nasse Steppjacke auszog. «Das wird Konsequenzen haben.» Sie drückte ihre Tochter wieder auf den Stuhl und zog ihr schnell die Schlittschuhe von den geschwollenen Füßen, während sie unablässig weiterkeifte: «Ich schätze diesen Umgang nicht. Von Anfang an nicht. Frau Burmönken, bringen Sie den Tee bitte rauf und rufen Sie den Doktor ...»
Isabelle versuchte, etwas zu sagen.
«Du schweig still!» Charlotte zog ihr Kind hinter sich her und verließ die Küche.
Isabelle setzte sich an den Tisch. Gretel tätschelte ihr den Kopf, während sie eine Tasse aus dem Regal nahm. «Zieh deinen Anorak aus, der is ja pitschepatschenaß. Der Pullover auch ...?» Isabelle schüttelte den Kopf. «Sei froh, daß nichts weiter passiert ist, hmm?»
«Ja.»
«Ich bringe jetzt den Tee nach oben, dann mache ich dir einen Kakao.»
«Wo ist Mama?»
«Mama ist in Blankenese. Sie holt Wäsche bei der Reinigung ab. Ist dir kalt?»
Isabelle schüttelte den Kopf. Gretel goß den dampfenden Tee in die Tasse, rührte einen Löffel Honig hinein und ging dann. «Bin gleich wieder da, Mäuschen!» sagte sie im Hinausgehen.
Isabelle ließ ihren Kopf auf den Tisch sinken und fing fast an zu heulen. Ihr war schrecklich
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