Der Seher des Pharao
Gemahlin lag auf dem Rücken. Man hatte Leintücher zwischen ihre Beine gepackt, aber die waren schon mit Blut vollgesogen, sodass sich ein scharlachroter Blutfleck auf dem Laken ausbreitete, mit dem sie zugedeckt war. Als Huy nach ihrer Hand griff, tröpfelte auch ein wenig Blut aus ihrer Nase. Ohne nachzudenken, wischte er es mit dem Lakenrand weg. Die Frau öffnete die Augen. »Huy«, flüsterte sie. »Es tut so weh.« Ihre Lippen waren blau, die Haut farblos und ihre Finger, mit denen sie Huys Hand kraftlos umschloss, eiskalt. Huy antwortete nicht, sondern schloss die Augen und wartete verzweifelt darauf, dass die Gabe in ihm erwachte. Stumm rief er Atum selbst an, sie zu heilen, die Frau von Sünden freizusprechen, die ihm mittlerweile mehr bedeutete als seine eigene Mutter. Die erwartungsvolle Menge hinter ihm verschwand. Er hatte flüchtig registriert, dass Anuket da war, sie stand an Nascha gedrückt am Fußende des Betts, aber als er den Gott anflehte, war er sich ihrer schon nicht mehr bewusst.
Endlich, mit einer fast hysterischen Erleichterung, spürte er, wie die vertraute Loslösung seines Geistes einsetzte. Das blutige Laken, die kraftlose Gestalt, die kräftigen Farben an der Wand dahinter verschwanden in einem Nebel, der viel dichter war als der Dunst über dem Fluss an einem kalten Morgen. Huy hatte das Gefühl, er und die Hand, die er hielt, würden sich mit hoher Geschwindigkeit bewegen, doch der Nebel wurde davon nicht geteilt.
Dann legte sich eine Hand auf seine – und ihre –, ein fester, herrischer Griff. Huy sah hinunter. Die Finger waren schwarz und trugen Goldringe, um das sehnige Handgelenk schloss sich ein Reif aus miteinander verbundenen Anch-Zeichen aus Lapislazuli. »Lass los, Sohn des Hapu«, sagte eine sanfte Stimme. »Es ist mein Vorrecht, sie dorthin zu geleiten, wohin sie gehen muss. Übergib sie mir.« Huy kannte die Stimme. Er löste seine Hand, und der Nebel verschwand. Anubis lächelte ihn an, die scharfen Fangzähne des Gottes glänzten im Licht der zahllosen Kerzen. Auf seiner anderen Handfläche lag ein pulsierendes Herz. Huy blickte sich um und merkte, dass er in der Halle der beiden Wahrheiten stand. Direkt vor ihm befand sich die Waage, eine Schale höher als die andere. Darunter lag zusammengerollt das Monster Ammit, die Verschlingerin der für schuldig befundenen Toten, und schlief. Huy meinte, Ammits stinkenden, von zahllosen Kas gesättigten Atem riechen zu können. Doch daneben stand Maat selbst, ihr hauchzartes Gewand wehte im Wind und schlug gegen Ammits raues Fell, und die Federn der Gerechtigkeit wogten über ihrer Stirn.
Etwas berührte Huys Arm, und als er sich umdrehte, sah er direkt in Nefer-Muts Gesicht. Sie war barfuß, ihr Haar lag offen auf den Schultern, und sie war in ein makelloses weißes Gewand gekleidet, das vom Hals bis zu den Knöcheln reichte. »Huy, wo bin ich?«, fragte sie, aber es war keine Angst in ihrer Stimme. Sie schien nicht zu merken, dass Anubis sie fest im Griff hatte. »Hast du mich geheilt? Bin ich gerettet?«
Huy schluckte. »Du bist in der Halle der beiden Wahrheiten«, brachte er mühsam heraus. »Deine Zeit in Ägypten ist abgelaufen, meine Mutter. Ich liebe dich so sehr.«
Ihre schwarzen Augenbrauen hoben sich, und sie schaute sich vorsichtig in dem höhlenartigen Raum um, dann seufzte sie. »So musste es also sein. Ich liebe dich auch, mein angenommener Sohn. Es ist schade, dass ich meine Kinder nicht mehr in der Blüte ihres Erwachsenenlebens sehen kann. Mein Herz muss gewogen werden. Wird das wehtun?« Noch immer lag keine Angst in ihrer Stimme. Es war beinahe so, als würde sie – im Gegensatz zu ihren Worten – nicht wissen, was mit ihr geschah oder wo sie sich befand.
Als Antwort beugte sich Anubis vor und hob seine Hand mit dem pochenden Organ. »Nein, Teuerste, es wird nicht wehtun«, sagte er, und seine lange Schnauze streifte ihre Wange. »Ich nehme dich an der Hand. Komm.« Gehorsam, wie ein vertrauensvolles Kind, ließ sie sich zu der Waage führen. Sofort erwachte Ammit, hockte sich auf ihre Schenkel und grinste sie abschätzend an. Doch ihre Augen waren auf die Maat gerichtet, als Anubis das Herz sanft auf die Waage legte.
»Du bist Ägyptens gesunder Verstand«, sagte sie zu der Göttin, als hätte sie das zuvor nicht gewusst. Maat neigte den Kopf zustimmend. Die Waagschalen begannen, sich zu bewegen. Langsam hob sich die Seite mit den Gewichten, und das Herz sank, bis die beiden Schalen auf gleicher
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