Der Seher des Pharao
Strafarbeit auferlegt bekommen. Daher musste er in der Kammer bleiben, und Huy, der nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte, begann herumzuwandern. Die Grenzen der Anlage hatte er längst erkundet. Aus respektvoller Entfernung hatte er beobachtet, wie die Priester in Res Heiligem See badeten. Er wusste, dass das stille Wasser für ihn verboten war. Auch den Bereich der Küchen und Lagerhäuser hinter dem Tempel hatte er durchstreift, obwohl er Angst hatte, dass Pabast ihn erwischen könnte. Selbst den Weg zu den Tierverschlägen hatte er gefunden und sich glücklich über den Zaun gelehnt, mit den Schweinen geredet, das struppige Fell der Rinder gestreichelt und die Tauben in ihren Käfigen beobachtet. Irgendjemand war immer dort, um die Tiere zu füttern, ihnen Wasser zu geben oder sie zum Schlachten zu führen, aber diese Männer kümmerten sich nicht um Huy. Anscheinend ging er sie nichts an. Den einzigen Teil des Tempels, abgesehen vom innersten Hof und dem Allerheiligsten, in den er sich noch nicht getraut hatte, waren die Quartiere der Priester, ihre Ankleideräume und die Kammern, in denen die Weihgefäße und Kultgegenstände aufbewahrt wurden. Das war eindeutig verbotenes Terrain, selbst für die ältesten Jungen, und trotz seiner Neugier hielt sich Huy davon fern.
An diesem Nachmittag war er bei den Tieren und wollte sich gerade zufrieden eine hübsche Taubenfeder aus dem Vogelkäfig angeln, als er eine vertraute Stimme hörte. »In der Küche werden noch zwei weitere Tauben benötigt«, sagte sie. »Geh und dreh ihnen den Hals um, aber schnell. Als hätte ich nicht genug zu tun, muss ich dir auch noch in diesen stinkenden Verschlag nachlaufen.« Das war Pabast. Der Viehhüter verdeckte ihn zwar, aber Huy kannte den herrischen Ton nur zu gut. Sein Herz hämmerte. Glücklicherweise hatte er sich gebückt, um nach der Feder zu tasten, denn sonst hätte ihn Pabast sofort entdeckt. Sein üblicher Rückweg war abgeschnitten. Der Hüter würde jeden Moment beim Vogelkäfig sein. Er hatte Huy schon früher hier gesehen und ihn nicht verraten. Aber jetzt war Pabast dabei. Es blieb nur ein Ausweg, der über die Schlachtstätte. Huy hatte ihn noch nie genommen und wollte das auch jetzt nicht. Aber er hatte keine Wahl. So schnell er konnte, kroch er auf allen Vieren dorthin.
Der ausgetretene Weg war voll mit Tierkot. Schon bald war Huy mit übelriechenden Exkrementen besudelt. Doch er wagte nicht, sich aufzurichten, ehe er außer Sicht wäre. Keuchend vor Angst, mit schmerzenden Handgelenken und offenen Knien kämpfte er sich weiter, bis ihm plötzlich der Geruch von getrocknetem Blut in die Nase stieg. Der Platz, den er erreicht hatte, ähnelte dem Sportgelände, war aber kleiner, und der Sand mit braunen Flecken übersät. An der Lehmziegelmauer, die ihn begrenzte, hingen Äxte, Keulen und Messer, die Huy schaudern ließen. Auf der gegenüberliegenden Seite häuften sich zu beiden Seiten einer Tür die Überreste von Verschlagen. Niemand war zu sehen. Huy keuchte ein Dankgebet an Re und rannte zu der Tür. Sie war nicht verschlossen. Er zwängte sich hindurch und befand sich nun in einer dunklen Kammer, in der Tierfelle in den verschiedenen Gerbstadien ausgespannt und aufgehängt waren. An den Wänden waren Fässer mit Knochen und Krüge mit Flüssigkeiten, die er nicht kannte, aufgereiht. In der Mitte stand ein großer Holztisch mit Schabern und anderen merkwürdigen Werkzeugen. Nie war Huy in einem widerlicheren Raum gewesen. Ihm war übel, und er zitterte. Gegenüber stand eine Tür offen, und er konnte den blauen Himmel und Gras sehen. Mit einem Schrei der Erleichterung stürzte er hinaus.
Vor ihm lag ein Palmenhain. Huy rannte zwischen die glatten Stämme, bis er sicher war, dass ihn niemand sehen konnte, dann ließ er sich in das schüttere Gras fallen und begann, heftig an seinen schmutzigen Beinen zu scheuern. Sein Schurz hatte den Matsch aufgesogen. Er zog ihn aus, rieb ihn zwischen den Händen und überlegte, wie weit weg der Fluss war. Seine Angst legte sich, und sein Herz kehrte vom Hals in die Brust zurück. Doch plötzlich wurde ihm klar, dass er sich außerhalb der abweisenden Doppelmauer befand, die den Tempel, die Schule und alles, was seine Welt ausmachte, umschloss. Allerdings war er nicht auf der Seite, die er kannte. Wenn er sich nach links wandte, würde er irgendwann den Kanal mit dem See und den gepflasterten Platz vor dem äußeren Hof erreichen, doch diese Möglichkeit verwarf er
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