Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
Vom Netzwerk:
sofort, denn er wollte nicht so besudelt über den belebten, offenen Platz gehen. Sich nach rechts zu wenden, bedeutete einen sehr langen Weg, aber auch die einzige Chance, ungesehen in den Gang zwischen den Mauern und schließlich in seine Kammer zu schlüpfen.
    Im dürftigen Schutz der Palmen machte er sich auf den Weg. Sowohl die körperliche Anstrengung als auch der Schock hatten ihn müde gemacht, doch die Angst vor der Strafe trieb ihn weiter. Er musste das Badehaus erreichen, ehe seine Kameraden zur abendlichen Wäsche dort eintrafen. Die Mauer erstreckte sich ohne Öffnung, und die Palmen wurden seltener und machten immer mehr Sandstreifen und stacheligen grauen Tamariskenbüschen Platz. Huy versuchte, in ihrer Deckung zu bleiben, war aber schon bald voll sichtbar. Mit geballten Fäusten stapfte er verbissen durch den Sand. Diener konnten ihn ruhig sehen. Angst hatte er vor den Priestern mit ihren fleckenlosen, weißen Gewändern, glänzenden Glatzen und autoritären Stimmen.
    Er blieb stehen und starrte die glatte Mauer an. Ich müsste schon längst bei den Gärten sein, überlegte er, oder wenigstens dicht bei der Rückseite des Bezirks. Die Mauer sollte einen Bogen machen. Es müsste Pforten und Tore geben. Ich müsste die Gärtner hören und vielleicht sogar Küchendüfte riechen. Wo bin ich? Ihr Götter, ich habe mich verlaufen! Panik presste seinen Magen zusammen. Am liebsten hätte er sich hingehockt und seine Gedärme entleert. Er stemmte sich gegen die Krämpfe und versuchte, in Ruhe nachzuvollziehen, welchen Weg er genommen hatte.
    Jetzt erkannte er seinen Fehler. Er war immer auf dem selben Weg zu den Ställen und zurück gegangen. Den Pfad zum Schlachtplatz hatte er zwar wahrgenommen, aber nicht weiter beachtet. In seiner Panik und Verwirrung hatte er geglaubt, zur Nordseite des Tempels zu fliehen, wo er Richtung Osten schon bald den Sportplatz erreicht und mit etwas Glück zurück in den Schulbereich hätte schlüpfen können. Aber der Schlachtplatz und die Gerberei befanden sich im Süden. Er hatte nicht nur die falsche Richtung eingeschlagen, sondern war auch wesentlich dichter am Fluss und der Vorderfront des Tempels gewesen, als er dachte. Ich muss bloß weitergehen, überlegte er. Ich habe die Rückseite noch nicht erreicht, aber ich gelange dorthin, wenn ich der Mauer weiter folge. Das dauert länger, aber ich kann immer noch die Abkürzung durch die Gärten und den Küchenbereich nehmen und verhindern, dass ich entdeckt werde.
    Er machte sich wieder auf den Weg und hielt nach den schattigen Bäumen der Tempelgärten Ausschau. Stattdessen entdeckte er einen merkwürdigen dreieckigen Schatten an der Mauer, der sich beim Näherkommen als kleine Pforte entpuppte. Und diese Pforte stand einen Spalt weit offen. Huy zögerte und entschied sich rasch. Er ging zu der Tür und spähte vorsichtig hinein.
    Zuerst sah er nur eine weitere Tür direkt gegenüber in der inneren Mauer, die den gesamten Tempelbezirk umgab, und seufzte erleichtert. Wo immer diese Tür hinführte, er war damit zurück im Reich von Re und konnte sich sicher wieder zurechtfinden. Doch dann sah er den Baum, und dieser Anblick vertrieb alle anderen Gedanken aus seinem Kopf. Umgeben von einer niedrigen runden Lehmmauer, die das Wasser speicherte, das ihn nährte, erhob sich der Baum mit seinen zahllosen grauen, gewundenen Ästen und füllte den Raum mit köstlichem grünem Schatten. In dem abgeschlossenen Innenhof befand sich nichts als der knorrige Stamm, dessen miteinander verwobene Äste und das blassgrüne Laub sich zu einem Gitter verbanden, das den Boden mit einem bewegten Muster von Kühle bedeckte. Huy starrte ihn bewundernd an. Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches gesehen. Keine Sykomore, keine Palme, keine Weide, keine Olive, keinen Johannisbrotbaum. Er verbreitete so sehr die Atmosphäre des Andersartigen, dass Huy fast Angst bekam, durch die Tür zu treten. Eine ganze Weile stand er einfach da, die Hand am Türsturz, und beobachte das Spiel von Sonne und Wind auf den zarten, nahezu durchscheinenden Blättern. Doch jenseits der anderen Tür wartete auch das Ende seines grausigen Abenteuers. Nur zwanzig Schritte, und er wäre gerettet. Das unbestimmte Gefühl, eine Gotteslästerung zu begehen, ließ ihn tief Luft holen, ehe er den Fuß auf die gestampfte Erde setzte.
    Er hatte etwa den halben Weg hinter sich gebracht, als sich die innere Tür plötzlich öffnete. Eine große Männerhand erschien, aber der Rest folgte

Weitere Kostenlose Bücher