Der Seher des Pharao
nicht gleich. Gesprächsfetzen waren zu hören. Entsetzt sah er sich nach einem Versteck um, doch das gab es nicht, hier waren nur er, der Baum und das beschattete Wasser. Er wirbelte herum, um die Außentür zu nehmen, doch zu spät. Die Tür hinter ihm fiel ins Schloss, und jemand packte seine Jugendlocke so fest, dass er mit einem Ruck zum Stehen kam. In Erwartung eines Schlägehagels duckte er sich, doch die Hand begann zu zittern und ließ ihn los. Huy drehte sich um. Vor ihm stand ein Tempelwächter. Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Mannes. Huy beobachtete fasziniert, wie die Haut des Mannes grau wurde.
»Was machst du hier?«, zischte der Mann. »Du darfst hier nicht sein. Und so dreckig.« Sein Blick fiel auf die halb offene Außentür, und er stieß Huy auf sie zu. »Raus hier! Götter, dafür werde ich ausgepeitscht!« Mit einem Achselzucken warf Huy seine Jugendlocke über die Schulter und schlenderte Richtung Tür. Seine Panik war verschwunden. Der Mann hatte mehr Angst als er selbst. »Schnell! Schnell!«, flüsterte der Soldat, der Huy nicht mehr berührte, aber dicht hinter ihm blieb. Angesichts seiner wiedererwachten Zuversicht beschloss Huy, sich Zeit zu lassen. Was immer er verbrochen hatte, die Folgen waren für ihn offenbar weniger schlimm als für den verzweifelten Mann, der hinter ihm herumfuchtelte. Nach diesem schrecklichen Tag hatte er keine Lust, sich von einem zweiten Pabast eine weitere würdelose Flucht aufzwingen zu lassen. Doch seine Arroganz wurde ihm zum Verderben. Er hatte die Freiheit fast erreicht, als die Innentür quietschte. Der Soldat stöhnte. Huy sah sich um und erstarrte.
Ein Priester stand dort. Durchsichtiges weißes Leinen fiel von seiner bronzefarbenen Schulter bis auf die vergoldeten Sandalen. Eines seiner Handgelenke schmückte ein goldener Armreif mit dem Zeichen für Re, und dieselbe Hieroglyphe hing auf seiner Brust. Er trug einen weißen Stab mit Res Falkenkopf an der Spitze, der klappernd zu Boden fiel, als Huy versuchte, die Tür zu erreichen. Der Mann stürzte sich auf ihn, und Huy schaffte es nicht mehr, sich durch den Türspalt zu zwängen. Eine kräftige Hand packte ihn am Genick und zerrte ihn wenig feierlich zurück.
»Schließ diese Tür und nimm deinen Posten draußen davor ein«, befahl eine kalte Stimme. »Du weißt genau, dass sie abgeschlossen sein muss, wenn du ihn auch nur für einen Moment verlässt. Doch dazu komme ich später.« Der Soldat schluckte hörbar, als er an Huy vorbeiging und verschwand. Die Tür, die Huys Rettung gewesen wäre, fiel ins Schloss.
Der Junge und der Priester musterten sich, Huy beklommen, der Priester ausdruckslos. Sein Griff lockerte sich nicht. Schließlich fragte er: »Weißt du, wer ich bin, du kleines Stück Abschaum der Menschheit?«
»Ja, Meister«, krächzte Huy. »Du bist der Oberpriester des Re.«
»Und weißt du überhaupt, was du getan hast?« Huy versuchte, den Kopf zu schütteln. »Du hast einen der heiligsten Orte der Welt entweiht. Schon allein deine Gegenwart ist ein schweres Vergehen, doch du wagst es auch noch, dabei nach den Ställen zu stinken. Wärst du älter, stünde darauf die Todesstrafe. Wer bist du?«
Huy verspürte das dringende Bedürfnis, seine Blase zu entleeren. Verzweifelt versuchte er, seine verschmutzten Knie ruhig zu halten. Er begann zu weinen. »Ich bin Huy, Sohn des Hapu aus Hut-Herib«, schluchzte er. »Ich bin Schüler der Tempelschule. Ich wollte nichts Böses tun, Meister. Ich habe mich verlaufen.«
»Wieso hast du dich so weit von deinen Quartieren entfernt?«, wollte der Mann wissen. »Aber das ist jetzt egal. Erklär mir das später. Mit jedem Moment, den du hier ungereinigt stehst, ziehst du den Zorn der Götter auf dich. Bis du heute Abend in dein Bett kriechst, wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein.«
Wäre nicht der unerbittliche Griff des Oberpriesters gewesen, wäre er ihm vor die Füße gesunken. Der Mann packte Huys am Arm und zog ihn rücksichtslos durch die innere Tür, drehte den großen Schlüssel im Schloss und zerrte den Jungen an einer Reihe von Kammern vorbei, aus denen sich Stimmengemurmel erhob. Ein paar neugierige Köpfe tauchten auf, doch Huy war zu verwirrt, um zu erkennen, dass er sich mitten in den Quartieren der zahllosen Priester befand, die den Dienst im Tempel versahen. Er schluchzte nach wie vor, ebenso aus Angst wie vor Schmerzen. Sein Arm fühlte sich an, als würde er jeden Moment abreißen.
Endlich kam ein jüngerer
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