Der Seher des Pharao
sprich mir die Worte der Entschuldigung und der Verehrung nach.« Huy kniete nieder und berührte mit dem Gesicht die Erde. Beim dritten Mal setzte der Oberpriester den Fuß in Huys Nacken, um ihn am Boden zu halten, während er die kurze Litanei sang, die Huy wiederholte. »Steh auf und verbeuge dich«, sagte der Mann dann knapp. »Weißt du, was du hier vor dir hast?«
»Nein, Meister«, würgte Huy hervor. »Tötest du mich jetzt?«
»Dich töten? Nein. Du bist nur ein unwissendes Kind, das seine Strafe dafür bekommt, dass es in verbotene Bereiche vorgedrungen ist. Du wirst dem Vorsteher Harmose übergeben und ausgepeitscht werden. Außerdem wirst du ohne Abendessen zu Bett gehen, damit du diesen Tag nie vergisst.«
»Meister, wieso ist dieser Baum heilig?«, wagte er zu fragen.
Der Oberpriester schenkte ihm ein frostiges Lächeln. »Dies ist der Baum des Lebens, der Isched-Baum. Manche nennen ihn auch Familienbaum, aber das ist nicht richtig. Er birgt alles Wissen um die Geheimnisse von Gut und Böse. Atum selbst hat ihn hier gepflanzt, als er die Welt aus dem Nun schuf, und von Beginn an hat ihn der Oberpriester des Re versorgt. Für den Fall, dass er abstirbt, haben andere Tempel Schösslinge bekommen, doch dieser ist älter, als alle Gelehrten zurückrechnen können, und gedeiht nach wie vor. Mein kleiner Sünder, du hast also etwas gesehen, das nur den Oberpriestern und Tempelwärtern je zu Augen gekommen ist.« Er packte Huy am Kinn, drehte sein Gesicht zu sich und betrachtete es eingehend. »Aus irgendeinem Grund glaube ich, dass dieses Geheimnis bei dir sicher ist«, sagte er langsam. »Ich weiß nicht, warum. Aber du hast etwas an dir. Sag, kannst du den Baum riechen?«
Huy nickte. Der ebenso süße wie stechende Duft war in der Dunkelheit stärker geworden. »Ja, das kann ich. Er riecht nach Honig und Knoblauch, nach den Blüten im Obstgarten meines Vaters und nach noch etwas, etwas Unangenehmem.« Er zögerte, denn er hatte Angst, erneut einen Frevel zu begehen. Doch die Miene des Priesters änderte sich nicht. »Vielleicht wie das Bein meines Vaters, als die Katze ihn gekratzt hat und die Wunde nässte und nicht heilte, sodass meine Mutter Weidensaft darauf tun musste.«
Der Oberpriester ließ Huys Kinn los. »Mir offenbart der Baum nur dann seinen Duft, wenn die Früchte schwer an den Zweigen hängen. Dann pflücke ich die Früchte, mache ein Feuer hier im Hof und verbrenne jede einzelne. Sie zu essen, ist verboten. Wer bist du?«, murmelte er. »Wollte der Gott, dass du in diesen Hof stolperst? Egal«, fügte er entschlossen hinzu, »deine Strafe bekommst du. Ich werde Harmose rufen lassen, und dann wollen wir die Geschichte von deinen Missetaten hören, ehe er die Weidenrute schwingt.«
Die folgende Stunde, ehe er voller Schmerzen auf sein Bett kriechen konnte, war die erniedrigendste in Huys bisherigem Leben. Im Empfangszimmer des Oberpriesters musste er diesem und Harmose die Dummheiten des gesamten Tages eingestehen und in der Folge auch noch zugeben, dass er die verbotenen Bereiche der Küchen, Gärten und Ställe viele Male betreten hatte. Anschließend wurde er, immer noch nackt, in seinen Hof gebracht und bekam sechs Schläge mit der Weidenrute. Das geschah vor den Augen seiner Klassenkameraden, deren Reaktionen von Belustigung bis Mitleid reichten. Die Rute war scharf und geschmeidig. Jeder Hieb brannte unerträglich, und Huy weinte, ehe die sechste Strieme auf seinem Rücken anschwoll.
»Leg deinen Arm auf meine Schulter und stütz dich«, sagte Thutmosis, als Huy schwerfällig Richtung Kammer und dem ersehnten Alleinsein humpelte. »Was hast du bloß Schreckliches angestellt, Huy? Hast du versucht, ins Allerheiligste zu gelangen?«
Huy sagte nur: »Ich habe etwas gesehen, das ich nicht sehen durfte.« Man hatte ihm zwar nicht befohlen, über die Existenz des Isched-Baums im Tempel zu schweigen, aber er tat es, weil er das Gefühl hatte, unter der prächtigen Krone hätte sich eine Botschaft für ihn befunden, die er auch lange nachdem seine Wunden verheilt waren und die anderen Schüler aufgehört hatten, ihn aufzuziehen, nicht entziffern konnte. Der Baum hatte seinen Ka tief berührt, über ihn zu sprechen, wäre für ihn eine neuerliche Blasphemie gewesen.
Er hatte erwartet, dass er von seinen Kameraden gemieden würde. Doch zu seiner Überraschung hatte ihm sein Abenteuer ein gewisses Ansehen verschafft. Wie ein Forschungsreisender hatte er sich in Gefahr begeben, vielleicht
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