Der Seher des Pharao
deinen Vater und deine Mutter?«, fragte er.
Samentuser sah ihn an, als sei er verrückt geworden. »Natürlich. Mein Vater ist weise und meine Mutter ist schön.«
»Glaubst du, dass sie dich lieben?«
Der Junge runzelte die Stirn. Ein Ausdruck von Unsicherheit huschte über sein Gesicht.
»Und willst du, dass sie dich noch mehr lieben? Warum sind deine Hauslehrer gegangen? Was meinst du, warum dein Vater dich auf eine Schule nach der anderen schickt?«
»Weil er mich nicht zu Hause haben will«, antwortete der Junge verdrossen.
Huy schüttelte den Kopf. »Nein. Er macht das, weil er dich viel zu sehr liebt, um zuzulassen, dass du immer grausamer und selbstsüchtiger wirst. Er wünscht sich so sehr, dass er stolz auf dich sein kann. Willst du das versuchen, Samentuser?«
»Du bist blöd«, murmelte Samentuser, aber er hielt still, als Pabast vorsichtig näher kam. Als sich ihm seine neue Jugendlocke auf die Schulter schmiegte und der Rest seines Haars als dunkle Wolke zu seinen Füßen lag, strich er sich über den eingeölten Schädel, grunzte und verließ die Kammer ohne ein weiteres Wort.
Der Tisch neben seinem Bett war voll mit prächtigen Statuen der Götter von Weset: Amun und seine Gemahlin Mut, ihr Sohn Chons. Huy wusste nicht, wer der Lokalgott von Nefrusi war und wollte es auch nicht wissen. Nefrusi lag zusammen mit den Städten Chmunu, Hor und Daschut im Hasengau, auf halbem Weg zwischen Iunu und Weset. »Er will nur mit den Verbindungen seines Vaters zum Horus-Thron angeben«, sagte Thutmosis böse. Samentuser hatte keine Zeit vergeudet und allen zu verstehen gegeben, dass sein Vater der edle Fürst des Hasengaus war und häufig im Palast in Weset und im Gespräch mit dem König persönlich zu finden war. »Wenn der Vater auch nur ein wenig dem Sohn ähnelt, dann kann unser Guter Gott ihn nur aus der Güte seines erlauchten Herzens heraus in seiner Umgebung dulden.«
Die Tage vergingen, und Huy bemühte sich, etwas Liebenswertes an dem Jungen zu entdecken. Er hörte sich seine Klagen über das Essen, die Qualität der Bettlaken oder das Verbot von privaten Dienern an. Samentuser ödete ihn an, und so betrachtete er die Stunden im Unterrichtsraum inzwischen eher als willkommene Ruhepause denn als Zeit, seine eigene Ausbildung fortzusetzen. Er war besorgt, aber nicht überrascht, als er merkte, dass sich eine Freundschaft zwischen seinem schwierigen Schutzbefohlenen und seinem alten Feind Sennefer anbahnte. Abgesehen vom Altersunterschied waren die Charaktere der beiden sich beunruhigend ähnlich. Samentuser hatte ein mitfühlendes Ohr gefunden und Sennefer einen Komplizen, der ihn bewunderte. Huy war unendlich erleichtert, als der Monat vorüber war und Thutmosis wieder in seine Kammer zog.
Mittlerweile war es längst Mechir, der Fluss war zurück innerhalb der Ufer und das Wetter angenehm. Auf den Feldern begutachteten die Bauern ihre kräftig-grünen jungen Pflanzen, die in den warmen Peret-Winden wogten. Die Schüler pflügten zufrieden durch ein neues Jahr des Lernens. Huy beschäftigte sich mit den Weisheiten des Amenemope, die dieser für seinen Sohn, den Schreiber Horemachet, verfasst und ihm diktiert hatte. Die Strophen waren lang und voller guter Ratschläge für die Jugend – ein Umstand, den Huys Lehrer immer wieder gern betonte. Außerdem schrieb Huy nach dem Diktat eines älteren Schülers direkt auf Papyrus. Der hatte für diese Übung die Armee-Erinnerungen des tapferen Feldherrn Ahmose Pen-Nechbet ausgewählt, einem Freund von Osiris Thutmosis dem Ersten in dessen alten Tagen und Ahnherr von Samentuser, wenn man dem schrecklichen Kind Glauben schenkte. Aus jedem Wort, das Huy in seiner ordentlichen Schrift gewissenhaft niederschrieb, sprach der starke Charakter des Mannes, waren sein Mut, sein Ansehen und sein Humor zu erkennen, sodass Huy unwillkürlich darüber nachdachte, dass hier ein starkes und gesundes Erbe zu Selbstsucht und Engstirnigkeit verkommen war. Nicht mehr als drei Könige trennten den ersten Thutmosis und seinen Feldherrn von Samentuser (genaugenommen sogar nur zwei, wenn man die Regentin Hatschepsut, die Tochter von Thutmosis dem Ersten, nicht mitzählte), doch Pen-Nechbets Linie drohte bereits die Verweichlichung.
An einem milden Nachmittag nach dem Schlafen sprach Huy beiläufig mit Thutmosis über diese Diskrepanz. Sie waren auf dem Weg zum Sportplatz, Thutmosis trug schon den Handschuh für den Unterricht im Wagenlenken, und Huy hatte seinen Bogen dabei.
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