Der Seher des Pharao
aufzustehen und seinen Geist aufs Neue herauszufordern.
Die Diener räumten die Becher und Teller und dann Tische und Stühle weg. Einen Moment lang herrschte Stille, dann stürmte der Oberpriester mit zwei Ministranten in den Hof. Er trug alle seine Insignien samt dem Leopardenfell über der Schulter. Die Anwesenden erhoben sich. Der Priester hob die Arme und begann das Loblied auf Re, das sich dann zum Gebet für Res Sicherheit auf seiner langen Reise durch die zwölf Häuser der Nacht wandelte. Huy fiel in den Gesang ein. Die Worte waren ihm mittlerweile so vertraut wie der eigene Name, doch ihre Schönheit berührte ihn zu Beginn eines jeden Schuljahrs aufs Neue. Nachdem er geendet hatte, hielt der Oberpriester inne. Sein Blick schweifte über die Versammlung und blieb an Huy hängen. Er lächelte, sein aristokratisches Gesicht überzog sich mit gütigen Falten und Huy lächelte zurück. Mit einem Nicken wandte sich der Mann zum Gehen, die beiden jungen Priester folgten ihm, und Huy atmete aus, während das Bild des Isched-Baums klar und deutlich vor seinem inneren Auge stand. Huys Vergehen war lange her, doch anscheinend war es weder dem Oberpriester noch ihm selbst bestimmt, das Ereignis zu vergessen. Wenigstens ist mir vergeben, dachte Huy, als er seine Kammer betrat, wo Pabast gerade die Lampe anzündete. Die Götter haben mir keine Vergeltung geschickt. Ich bin wahrhaftig gesegnet.
Er wollte sich gerade ausziehen, als Thutmosis erschien. Die Freunde umarmten sich glücklich, doch statt sich auf das noch ungemachte Bett zu werfen, das er normalerweise benutzte, hockte sich Thutmosis im Schneidersitz und mit verschränkten Armen neben Huy. »Ich kann nicht bleiben«, sagte er bedauernd. »Ich wohne mit meinem Schutzbefohlenen im Hof nebenan. Ich bin so spät hier angekommen, weil wir Verwandte in Mennofer besucht haben und Vater die Sänftenträger nicht finden konnte, als wir zurückkamen.« Er schüttelte den Kopf. »Der Haushofmeister stöberte sie schließlich in einer Bierkneipe auf. Ich hätte zu Fuß gehen können, aber du weißt ja, wie besorgt Vater immer ist.« Er sah Huy mit seinen großen, strahlenden Augen an. »Es ist so schön, dich wiederzusehen! Geht es dir gut? Die Mädchen haben mich die ganze Zeit gedrängt, dich so bald wie möglich zu uns einzuladen. Was hast du für deine Locke mitgebracht?« Es war das erste Jahr, in dem die Jungen selbst entscheiden durften, womit sie ihre Jugendlocke banden.
Huy grinste in Thutmosis’ ungewöhnlich lebhaftes Gesicht. »Mein Vater hat mir einen kleinen Frosch aus einem Stück Treibholz geschnitzt, das das Hochwasser letztes Jahr bei uns angeschwemmt hat«, antwortete er, glitt vom Bett und griff hinter die Chenti-Cheti-Statue auf dem Tisch. »Schau, er hat grüne Fayence-Augen und eine Schlaufe, sodass ich ihn auf das Lederband fädeln kann, das ich gemacht habe. Was hast du?«
Thutmosis betastete die ölige Glätte der winzigen Kreatur. »Er ist schön.« Er nickte und gab den Frosch zurück. »Ich habe Seidenschleifen in verschiedenen Farben. Die kann ich waschen, wenn sie schmutzig sind. Alle hatten Einwände. Mutter wollte mir Goldbänder weben lassen, Vater gab silberne Anch-Zeichen in Auftrag und sagte, ich solle sie wenigstens an die Schleifen hängen, damit nicht alle dächten, wir seien arm. Doch ich habe ihn gebeten, sie in einen Armreif für mich einarbeiten zu lassen.« Er stöhnte. »Es war ständig was los in den Ferien, und ich bin froh, wieder hier zu sein. Du auch?«
»Oh ja! Aber wir werden im ersten Monat kaum Zeit zum Reden haben«, sagte Huy mit Bedauern. »Wie ist dein Schutzbefohlener? Meiner kommt erst in zwei Tagen.«
»Er ist still und verängstigt und wollte meine Hand nicht loslassen, ehe ich ihn ins Bett gepackt und gesagt habe, dass ich jetzt meinen Freund besuchen müsste.« Thutmosis lachte. »Er kommt aus Abtu und hat eine riesige Osiris-Figur neben seinem Bett aufgestellt. Für den Tisch ist sie zu groß. Doch ich begrüße solche Frömmigkeit. Ist dir klar, dass der Große Gott in seinem einundfünfzigsten Regierungsjahr ist? Er muss wirklich heilig sein! Was gab’s zum Abendessen?«
Sie plauderten noch eine Weile, und Huy genoss die Atmosphäre von gesundem Menschenverstand und Sicherheit, die Thutmosis immer mit sich zu bringen schien. Schließlich stand der Freund auf und umarmte ihn erneut. »Ich muss gehen. Ich möchte nicht, dass das Kind aufwacht und niemand da ist, der es trösten kann.«
In der
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