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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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Es war kein Festtag, daher war der Tempelvorhof ziemlich leer, als sie ihn überquerten. Nur ein paar Priester waren im Schatten der Säulen zu sehen, die den äußeren Tempelhof bewachten. Auf dem Rasen unter den Bäumen spielten mehrere Jungen, ihr Geschrei brach sich an der hohen Mauer, die den gesamten Bezirk außer auf der Vorderseite zum Kanal und See hin umgab. Huy erkannte Samentusers Rücken. Über ihm schwang Sennefer ein Wurfholz. Sennefer entdeckte die beiden Freunde und steuerte auf den See zu, an dessen Ufer sie gerade entlanggehen wollten. »Wir hätten heute nicht den längeren Weg einschlagen sollen«, murmelte Thutmosis. »Seit ihm sein Vater diese neue Waffe geschickt hat, prahlt Sennefer damit. Was machen wir jetzt?«
    Huy seufzte. Sie hatten keine andere Wahl, als direkt an Sennefer vorbeizugehen. Umkehren wäre feige gewesen. Sie behielten ihr gemächliches Tempo bei, aber Huy merkte, wie er voll dunkler Vorahnungen jeden Muskel anspannte. Und da ertönte auch schon Sennefers Stimme.
    »Siehst du mein Wurfholz, Huy?«, höhnte er und hob es über den Kopf. »Ich bin schon recht gut damit. In den Ferien habe ich zwölf Enten damit runtergeholt. Jetzt übe ich mit Samentuser. Willst du es auch mal probieren?«
    Thutmosis legte die Hand warnend auf Huys Arm. »›Wie der Sturm das Feuer im Stroh entfacht, so ist der Hitzköpfige in der Stunde des Zorns‹«, zitierte er aus den Weisheiten des Amenemope. »Beachte ihn nicht, Huy. Schau ihn nicht mal an. Er macht das gern.«
    Samentuser hatte sich herumgedreht und beobachtete sie ausdruckslos. Huy biss die Zähne zusammen und ging weiter.
    »Ach natürlich, das habe ich ja vergessen!«, rief Sennefer laut und voll scheinheiligem Bedauern. »Du darfst ja kein Wurfholz in die Hand nehmen, nicht war? Als Sohn eines Bauern, meine ich. Zu schade. Sonst hättest du damit ein paar der Ratten erlegen können, von denen es in der Bruchbude deines Vaters doch sicher wimmelt.«
    Huy blieb abrupt stehen, der Bogen fiel ihm aus der Hand.
    Thutmosis zerrte verzweifelt an ihm: »Komm weiter, Huy! Komm weiter! Er ist den Ärger nicht wert! Er ist ein Niemand!« Aber Huy schob die Hand des Freundes beiseite. Sein Herz hatte zu hämmern begonnen, und vor seinen Augen erschien ein roter Schleier. Durch ihn hindurch sah er, wie der kleine Samentuser grinste und sich Sennefers Mund zu einer neuen Beleidigung öffnete.
    »Diesmal nicht«, stieß er hervor. Tief in seinem Innern war ihm bewusst, dass er vor Zorn nahezu außer sich war, dass er bereit und in der Lage war, Sennefer mit bloßen Händen totzuschlagen, dass er dieses letzte Aufflackern einer schrecklichen Selbsterkenntnis nutzen musste, um wieder Herr seiner Sinne zu werden. Doch mit einem Stöhnen schob er es beiseite und ließ seinem Zorn freien Lauf. Mit verzerrtem Gesicht duckte er sich, spannte den ganzen Körper an und wollte sich auf Sennefer werfen.
    Durch den Nebel in seinem Kopf hörte er Thutmosis noch »Nein, Huy!« schreien und sah, wie Sennefers Ausdruck von Hohn zu überraschter Angst wechselte, sah, wie Sennefers Hand mit dem Wurfholz unbewusst nach oben ging und die Waffe auf ihn zuschoss, sich ein ums andere Mal drehte und das polierte Holz in der Sonne glänzte. »Ihr Götter«, rief Thutmosis.
    Huy hatte das Gefühl, die Zeit würde immer langsamer. Er konnte über die erschrockene Ungläubigkeit in den beiden Worten des Freundes nachdenken. Durch seine Sandale hindurch verspürte er deutlich seinen Bogen, als er einen Schritt zurück trat. Als sich Thutmosis gegen seine Schulter warf, kippte er ganz langsam zur Seite. Fasziniert beobachtete er, wie das Wurfholz näher kam. Jetzt konnte er es auch hören, ein rhythmisches Zischen, während es die Luft durchschnitt. Und dann traf es. Plötzlich kroch er blind auf den Steinplatten des Vorplatzes herum. Er wusste, dass er kroch, aber er konnte seine Hände und Knie nicht fühlen. Das laute Singen in seinem Kopf übertönte fast, dass irgendwer seinen Namen schrie. Dann war Leere unter ihm, er fiel, und das kühle Wasser des Sees schlug über ihm zusammen. Vergeblich versuchte er, Luft zu holen, doch das machte nichts, denn unter ihm war wieder diese dunkle und unendliche Leere. Auch wenn er die Augen nicht öffnen konnte, wusste er, dass sie dunkel und tröstlich war und er wie ein Kiesel in einen Brunnen fiel. Es gibt keinen Grund, dachte er ruhig. Also kann ich mich auch gleich dem Tod überlassen. Als hätte er das laut ausgesprochen,

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