Der Seher des Pharao
Der Wein hatte sie wiederbelebt. Sie grinste Huy an. »Du hast noch vier Jahre Schule vor dir. Du bist jetzt zwölf. Wirst du immer noch an deine Gabe glauben, wenn du sechzehn bis und Anuket unbedingt heiraten willst?«
»Halt den Mund, Nascha!«, schrie Thutmosis sie an. »Warum musst du so gemein sein?«
Doch Huy war kühl und ruhig geworden. »Lass es gut sein, Thutmosis«, sagte er bedächtig. »Nascha ist wütend. Warum bist du wütend, Nascha? Ich weiß ebenso gut wie du, dass Anuket für mich unerreichbar ist. Mein Blut ist bürgerlich. Egal, wie gut ich als Schreiber verdiene, ich werde ihr nie das bieten können, was sie von zu Hause gewöhnt ist. Es ist wahr, dass ich sie liebe. Ich schäme mich dessen nicht. Aber ich habe nicht mit ihr über meine Gefühle gesprochen. Und ich werde das wahrscheinlich auch nie tun. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was du über die Keuschheit von Sehern gesagt hast. Da werde ich jene fragen, denen ich vertraue. Auf alle Fälle verdiene ich aber dein Mitgefühl, nicht aber diese kaum verhohlene Bosheit.«
Während seiner Sätze verschwand die Bitterkeit langsam aus ihrem Gesicht. »Du hast recht, Huy. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum deine Worte mich wütend gemacht haben.« Sie lächelte gequält. »Vielleicht entspringt die Wut meiner Angst. Mutter sagt, dass Frauen ihre Angst mit Wut verschleiern.«
»Warum solltest du Angst vor mir haben?«
»Nicht vor dir. Aber vor dem Durcheinander, das du in dieser Familie anrichten könntest. Bitte verzeih mir. Ich möchte nur, dass alle glücklich sind.«
Ein langes Schweigen folgte. Huy beobachtete Thutmosis aus dem Augenwinkel und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Der Freund hatte ihn wütend gegen Naschas unschöne Worte verteidigt. Offenbar waren ihm Huys Gefühle für Anuket nicht neu, obwohl er sie ihm gegenüber nie zur Sprache gebracht hatte. Huy wollte die Wahrheit, die Nascha gerade so erbarmungslos formuliert hatte, nicht aus Thutmosis’ Mund hören, und bislang hatte dieser auch nichts dazu geäußert. Vielleicht fürchtete er, dass das ihre Freundschaft gefährden würde. Der Stoff des Baldachins flatterte rhythmisch im Wind, und die Schilfkolben rieben sich aneinander. Schließlich seufzte Thutmosis laut.
»Es gibt eine Bezeichnung für Frauen wie dich, Nascha«, sagte er ernst. »Je eher Vater einen Mann für dich findet, desto besser. Trink deinen Wein, und wenn du Glück hast, schläfst du ein.« Er hielt Huy Brot und Käse hin. »Möchtest du Bier dazu trinken, Huy? Wir haben es selbst gebraut.«
Huy griff zu. Thutmosis’ Augen baten ihn, ruhig zu bleiben und es dabei bewenden zu lassen. Er nickte. »Als großer Seher prophezeie ich, dass wir essen und trinken werden, und du, Thutmosis, wirst wie üblich ein Wurfholz in den Sümpfen verlieren, und wir alle werden einschlafen, wenn wir zurückgestakt werden«, verkündete er feierlich. Nascha brach in Gelächter aus, und die ungute Stimmung war verflogen.
Huy hatte bedrückt damit gerechnet, dass sich das Verhältnis zu Nascha aufgrund ihres Ausbruchs ändern würde, doch zu seiner Erleichterung kehrte sie am Abend zu ihren üblichen Frotzeleien zurück, neckte ihn während des Essens und umarmte ihn, bevor sie in ihr Zimmer ging. Nacht verschwand in seinem Arbeitszimmer, seine Frau in den Garten, sodass Huy, Anuket und Thutmosis allein auf ihren Kissen im Zimmer saßen, nachdem die Diener abgeräumt hatten. Sie sprachen wenig. Huy beobachtete das Spiel von Licht und Schatten, das die Lampe auf Anukets Gesicht warf, während sie eine der Katzen auf dem Arm hatte, die immer majestätisch durch das Haus stolzierten. Der Anblick war für ihn ebenso schön wie quälend. Thutmosis schien in irgendwelche düsteren Gedanken versunken, schließlich seufzte er. »Und morgen zurück in die Schule. Manchmal bin ich den ewig gleichen Tagesablauf leid. Wenigstens weiß ich, dass du jetzt da bist und mir die Langeweile vertreibst, Huy.«
Huy langte nach der Katze, um das weiche Fell zu streicheln. Doch das Tier fauchte ihn an, schlug die scharfen Krallen in seine Hand und rannte davon.
Anuket lächelte. »Sie ist trächtig und deshalb unberechenbar. Aus irgendeinem Grund hängt sie an mir.« Sie stand auf. »Der Kratzer blutet. Ich hole eine Salbe.«
Huy sah, wie das Blut herausquoll und in einem dünnen Rinnsal an seinem Handgelenk hinunterlief.
»Anuket ist sehr taktvoll«, stellte Thutmosis fest. »Diese Katze fordert von allen Zuwendung –
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