Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
Stühle, ein Tisch und zwei Sitzbänke, die aus knorrigen Ästen zusammengebaut waren. An den Rückenlehnen waren die Äste so kunstvoll ineinandergeflochten worden, dass sie aussahen wie der Thron eines Elfenkönigs.
Auf dem Holzboden lagen dicke Pelze, die in der Nacht die Kälte vertrieben und am Tag für einen bequemen Untergrund sorgten. Am atemberaubendsten von allem war jedoch die Decke. Äste und Zweige waren so verflochten, dass sie einen robusten Schild gegen die launischen schottischen Stürme bildeten. Anstelle von Blättern trugen diese Äste und Zweige Tropfen aus scheinbar flüssiger Farbe, die in der Nachmittagssonne bunt schillerten.
Sie erkannte, dass es sich bei diesen Tropfen um Glaskugeln in den Farben Grün, Gold, Bernstein und Rot handelte, die jede Oberfläche in diesem Raum in eine Fülle von Farben tauchten. Das Baumhaus wirkte von Leben, Wärme und schöpferischer Kraft erfüllt.
»Das habt Ihr alles geschaffen?«, staunte sie, während sie von widersprüchlichen Gefühlen förmlich überwältigt wurde. »Etwas so Schönes?«
Er nickte bestätigend, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen, als bereite es ihm allein schon Freude, ihre Begeisterung zu beobachten.
»Wie? Warum?«
Mit einem Schulterzucken erwiderte er: »Das hier ist mein Zuhause und ein ganz besonderer Ort für mich.«
Sehnsucht erfasste Izzy. Wie musste es wohl sein, ein Zuhause zu haben? Eine Familie, die einem wichtig war und die sich um einen kümmerte?
War es das, was er ihr jetzt anbot?
»Es ist wunderschön.« Es war zu gewagt, auf so etwas zu hoffen, ein zu großes Risiko. Sie hob den Arm und strich über die Farbtropfen, die über ihr an der Decke hingen. Sie fühlten sich hart und kalt an, und doch waren sie voller Leben. Niemals hätte sie für möglich gehalten, dass etwas derart Fantastisches existieren könnte.
Vielleicht sind auch andere Dinge möglich, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Erzähl ihm von dir. Erzähl ihm von dem kleinen Mädchen, das im Gefängnis saß und durch die Schießscharten nach draußen schaute, wo es vielleicht ein besseres Leben gab. Die Worte lagen ihr auf der Zunge, aber sie wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Wenn sie sich ihm so offenbarte und damit Gefahr lief, von ihm zurückgewiesen zu werden, dann konnte das ihren Untergang bedeuten.
Sie war nicht bereit, ihm so großen Einfluss über sich zu gewähren. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. Seine Miene verriet, dass er mit sich kämpfte, als überlege er ebenfalls, ob er ihr etwas anvertrauen sollte.
»Isobel, ich muss Euch morgen verlassen. Heute habe ich mich nicht um meine Pflichten gekümmert, und das bedeutet, ich muss sie morgen umso dringender erledigen.«
»Könnte ich Euch begleiten?«
»Nein«, antwortete er schroff und fuhr sanfter fort, da er mitbekam, wie sie sich erschreckte: »Ich muss in einer Ehrensache einem meiner Feinde gegenübertreten.«
Eine Erinnerung kam an die Oberfläche. Als sie unter dem Einfluss des Giftes im Bett lag, hatte er ihr etwas zugeflüstert. Was war es gewesen? Ja, genau, es hatte etwas mit ihrem Vater Lord Grange zu tun gehabt. »Müsst Ihr wirklich gehen?« Die Angst um ihn veranlasste sie zu ihren kühnen Worten.
»Wünscht Ihr, dass ich bleibe?«, gab er erstaunt zurück.
Ihre Wangen begannen zu glühen. »Ich wollte damit nur sagen … manchmal ist es besser, wenn man seine Feinde ignoriert …»
»Grange ist kein Mann, den man ignorieren darf«, warnte er sie.
Sie wusste nur zu gut, wie sehr seine Worte zutrafen. Aber ihr Vater war auch gefährlich und unberechenbar, wie ihre Mutter stets gesagt hatte. Sie schluckte angestrengt. »Es ist nur so, dass … nun, ich kenne ihn. Er …»
»Es ist meine Pflicht, ihn zurechtzuweisen.« Wolfs Gesichtszüge waren wie versteinert, während er auf die Tür deutete. »Wir sollten gehen.«
Sie begab sich zur Tür, ehe sie sich noch einmal zu ihm umdrehte. Einzig die Wahrheit würde ihn davon abhalten, Grange aufzusuchen. Konnte sie ihm von ihrem Vater erzählen, der sein Feind war? Oder würde sie sich damit ebenfalls zu seinem Feind machen? Dieser Gedanke beschäftigte sie, als sie nach unten kletterte. Unten angekommen, wartete sie, bis Wolf neben ihr stand. Auch wenn diese gemeinsame Zeit kein so angenehmes Ende gefunden hatte, waren es doch magische Momente gewesen, und das wollte sie ihn wissen lassen. »Danke, dass Ihr das mit mir geteilt habt.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Baumhaus.
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