Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
dem Weg gehen wollte, drehte sich Izzy auf ihrem Platz zur Seite und wollte aufstehen. Seine Fragen waren ihr einfach zu ausforschend.
Abrupt griff er nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest, woraufhin sie erschrocken zusammenzuckte. Sofort ließ er sie wieder los und sah sie zerknirscht an. »Ich wollte Euch nicht wehtun.«
Sie rieb ihr rechtes Handgelenk. Wehgetan hatte er ihr nur in dem Sinn, dass sie von ihm an die Fesseln erinnert worden war, die sie früher einmal tragen musste. »Ihr habt mich erschreckt, das ist alles.« Sein knappes Nicken sagte ihr, dass er ihre Erklärung als die Wahrheit akzeptierte.
»Ich entschuldige mich für mein Verhalten, als ich Euch zu Antworten drängen wollte. Ich habe mich von meinem Wissensdurst mitreißen lassen.« Er hielt inne und runzelte die Stirn. Seine Unzufriedenheit war ihm deutlich anzumerken. »Ich spüre, Ihr verschweigt mir etwas, was diesen Stein an Eurer Halskette angeht.«
»Ich habe Euch alles gesagt«, beharrte sie und griff nach dem Stein, der sich normalerweise kühl anfühlte, nun aber in ihrer Hand warm wurde. Dann sah sie, dass er zu leuchten begonnen hatte, erst nur in einem schwachen Licht, dann in einem intensiven Rot. Neugierig und auch etwas ängstlich betrachtete sie den hellen Schein, in den er getaucht war. Völlig unerwartet entstand vor ihrem geistigen Auge ein Bild, und sie sah sich, wie sie an einer Wegkreuzung stand. Ein Weg führte in einen entfernt gelegenen Wald, unmittelbar vor der Baumlinie hielt sich eine Frau auf dem Weg auf. Ihre Kleidung saß schief, ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht von Schmerz gezeichnet. Die Frau winkte Izzy zu sich.
Izzy machte einen zögerlichen Schritt, dann blieb sie gleich wieder stehen, da das Gesicht der Frau mit einem Mal deutlicher zu sehen war. »Nimm den Weg, den das Schicksal dir vorbestimmt hat«, rief ihre Mutter ihr zu.
Sie wich ein Stück zurück und schaute auf die Straße, die in die andere Richtung abzweigte. Eine gebückte Bestie saß dort am Wegesrand, sie wirkte müde, das Fell war feucht und struppig. Den Kopf hielt das Tier zwar stolz erhoben, doch es schien so, als würde eine schwere Last ihm zu schaffen machen.
Sie musterte die Bestie, die Izzys Blick erwiderte, doch der Ausdruck in diesen Augen ließ ihren Atem stocken. Pechschwarze Augen, die Schmerz ausstrahlten, unerträglichen Schmerz. Dann bemerkte Izzy das Fangeisen, dessen Zähne sich tief in ein Bein eingeschnitten hatten. Eine Blutlache war auf dem staubigen Boden zu sehen. Die Kreatur benötigte ihre Hilfe.
Ohne sich um ihre eigene Sicherheit zu scheren, machte sie einige Schritte auf die Kreatur zu und blieb erst stehen, als diese die Zähne fletschte. »Ich will dir helfen«, rief sie ihr im Geiste zu.
Ein Knurren ertönte, eine Warnung. Trotzdem ging Izzy weiter, sie konnte einfach nicht anders. Der Wunsch, diesem Tier zu helfen, war stärker als alle Vernunft.
Das Bild in ihrem Kopf veränderte sich. Die Bestie verwandelte sich in einen Mann, aber auch sein Bein war in das Fangeisen geraten,
Der Mann sah auf, ihre Blicke trafen sich.
Wolf!
Sie erschrak und ließ den Stein los. Im gleichen Moment verschwand die Vision.
Ihre Mutter … die Visionen … Erinnerungen an das Elend im Kerker … all das stürzte auf Izzy ein, die nach Luft zu schnappen versuchte. Da war das Heulen gewesen, das endlose Heulen, dazu die Visionen, die ihre Mutter stundenlang reglos hatten daliegen lassen. Doch trotz der vielen Stunden des Leidens hatte Izzy kaum Wissen von ihrer Mutter vermittelt bekommen. Sie wusste zu wenig darüber, wovon die befallen gewesen war und was ihr selbst auch drohte.
Brahans Gesicht tauchte vor ihr auf und musterte sie besorgt. »Ihr hattet eine Vision.« Sein schneidender Tonfall durchbrach den Nebel, von dem ihr Verstand eingehüllt wurde. »Ihr seid eine Seherin.«
»Nein.« Eisige Kälte durchfuhr Izzy und drang ihr bis in die Knochen, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihre Finger kribbelten, als seien sie einem winterlichen Wind ausgesetzt gewesen. »Das ist … nicht möglich.« Ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie konnte nichts dagegen unternehmen. War es denkbar, dass er Recht hatte?
Die Kälte in ihren Händen wanderte ihre Arme hinauf bis zu den Schultern und breitete sich von dort bis in die Brust aus. Sie sah zum Kamin und wunderte sich, warum es im Saal auf einmal so kühl war. Die Scheite sorgten für ein loderndes Feuer, und doch schien von den Flammen keine Wärme
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