Der Semmelkoenig
verlieren. Aber sie ließ es nicht zu. Geschickt lockerte sie die Schlinge mit der freien Hand. Ihm wurde schwindlig, die Beine drohten einzuknicken. Noch war er von hinten gestützt, das Seil um seinen Hals wurde genestelt und so angezogen, dass er nicht mehr den Kopf durchziehen konnte. Dann ließ sie ihn endlich los. Er sackte in die Knie, holte dabei tief Luft. Seine Gedanken rasten. Sollte er aufgeben? Sollte es das gewesen sein? Er brauchte eine Pause, aber konnte er sich diesen Luxus erlauben? Es gab keine Zeit mehr, um wieder zu Kräften zu kommen. Er würde es nicht mehr schaffen. Oder vielleicht doch? Langsam drehte er den Kopf, aber sofort hatte sie ihn brutal an den Haaren gepackt. Es war so, als wolle sie ihm die Kopfhaut abreißen. Der Schmerz war unbeschreiblich, aber niemand konnte seine gedämpften Schreie hören, denn das Klebeband leistete wirklich gute Dienste.
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»Ich hab’s ja gewusst«, flüsterte Krautschneider erschrocken. Neben ihm war ein neugieriges Rind aufgetaucht, blickte ihn aus seinen schönen, großen Augen an und beschnupperte den jetzt stocksteif dastehenden Polizeibeamten mit einem feuchten, geräuschvollen Schnauben.
»Helft mir!«, wimmerte er. »Sofort!«
Wolfgang lachte.
»Mei Krautschneider, hast Angst vor so einem damischen Rindvieh? Pass auf, ich zeig dir mal was.«
Er zog die Jacke aus, lief zu Krautschneider und begann damit, dessen gehörntem Albtraum vor der Schnauze herumzufuchteln. Zunächst passierte gar nichts. Krautschneider zweifelte wieder einmal an Wolfgangs Verstand und das Rind wusste offenbar gar nicht, was es davon halten sollte. Aber Wolfgang blieb hartnäckig und als er nun auch noch damit anfing, »Olé, olé!« zu rufen, machte das Tier plötzlich unerwartet heftig einen Luftsprung, drehte sich um und rannte empört aufmuhend davon.
»Danke!«, murmelte Krautschneider und betete inständig, dass Wolfgang verschwiegen war, denn wenn diese Geschichte die Runde machen würde, würde er seines Lebens nicht mehr froh werden.
»Gerne«, entgegnete Wolfgang, der ernsthaft überlegte, die Verfolgung aufzunehmen, sich dann aber wieder zu Krautschneider drehte. »Ich glaub, des bleibt unter uns, oder? Deine Kollegen werden dich damit sonst aufziehen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.«
Ein Strahlen der Erleichterung trat auf Krautschneiders Gesicht. Der Junge war in Ordnung.
»Danke! Und Obacht. Ein Schritt zurück und du stehst in einem Produkt von diesen Viechern.«
Es war ja schließlich selbstverständlich, dass man Freunde vor den Gefahren eines Kuhfladens warnen musste.
»Mei Wolfi, Krautschneider? Wo bleibts denn?«, rief Claudia. Die beiden Frauen waren mittlerweile am anderen Ende der Weide angekommen und schon über den Zaun gestiegen.
»Mannsbilder!«, pflichtete Erika bei. »Immer muss man auf sie warten!«
»Apropos Mannsbilder!«, Claudia erstarrte, machte die Augen zu Schlitzen und rief dann resolut: »He, Sie da! Was machen Sie hier? Wer sind Sie? Geben Sie sich sofort zu erkennen!«
Erstaunt fuhr Erika herum und folgte Claudias Blick. Vor ihnen, vom Waldrand kommend, war ein Schatten aufgetaucht. Wer oder was war das? Der Größe und Statur nach eindeutig ein Mann. Waren sie in Gefahr? War er der Grund, warum Sandra ihre Hilfe brauchte? Erika ballte unwillkürlich die Fäuste. Auch Claudia war jetzt in höchster Alarmbereitschaft, aber bevor sie ihre Dienstwaffe aus dem Holster ziehen konnte, traf ein greller Blitzstrahl die beiden Frauen mitten ins Gesicht. Claudia schloss sofort die Augen – leider zu spät – denn die verschiedenfarbigen Punkte und Flecken auf ihrer Netzhaut waren eindeutige Symptome dafür, dass sie geblendet war. Eine tiefe Stimme sagte etwas, aber sie verstand kein Wort. »Es handelt sich eindeutig um einen Ausländer«, kombinierte sie rasch, während sie den Arm schützend vor die Augen hielt und tapfer ins grelle Licht blinzelte. Eine Taschenlampe, was für eine tolle Idee! Die hätten sie gut für die Weideüberquerung gebrauchen können, denn die Kuhfladen waren biologische Tretminen und zumindest Erika war in einer fast ausgerutscht. Ganz zu schweigen von den Kaninchenlöchern.
»Nehmen Sie das Scheißding von meiner Nase weg«, schimpfte die Kommissarin wütend und da der Mann sie offensichtlich nicht verstehen wollte, hatte sie ihm auch schon mit geübt schnellem Griff die Stablampe aus der Hand gedreht.
»Mensch Claudi, geniale Idee! Eine Taschenlampe! Aber warum haste erst jetzt daran gedacht? Ich
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