Der Semmelkoenig
können? Blödsinn! Er wischte in Gedanken diese Spukgeschichte fort und konzentrierte sich wieder auf die Schuhe direkt vor seiner Nase. Umständlich versuchte er, seinen Kopf zu heben. Nein, die Knöchel waren eindeutig zu dick, die Waden zu kräftig – natürlich war es jemand anderes. Um ihn nicht weiter der Gefahr einer Nackenstarre auszusetzen, ging die Schuhträgerin in die Hocke und Hannes konnte endlich ihr Gesicht sehen.
»Oh, hallo, Frau Blum. Wie ich sehe, haben Sie sich umgezogen. Hübsch!«, hustete er.
Seine Augen fingen jetzt auch noch an zu tränen. Erschöpft legte er seinen Kopf auf die Seite und ignorierte, dass sich dabei ein Zigarettenstummel in seine Wange drückte.
»Ach, Herr Petersen. Es tut mir ja alles so leid.«
Merkwürdigerweise glaubte er ihr das sogar. Trotzdem war er sauer. Er war sauer, weil er überfallen, entführt und gefesselt vor ihr lag, weil er sich so hilflos fühlte.
»Machen Sie mich sofort los!«, schimpfte er.
Sandra Blum schüttelte nur den Kopf. Das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Umso überraschter war Hannes dann jedoch, als sie ihn unter den Achseln packte und zurück an die Wand zerrte. Dort richtete sie ihn wenigstens in sitzende Position auf, sodass er wieder besser atmen und auch etwas mehr sehen konnte.
»So«, schnaufte sie zufrieden. »Ja, so ist’s gut.«
Das konnte man natürlich aus verschiedenen Blickwinkeln sehen. Für Heidis Mutter mochte es gut sein, für Hannes leider nicht. Wütend blickte er zu ihr auf.
»Wenn Sie mich nicht augenblicklich losmachen, dann schreie ich!«, drohte er.
Schnell beugte sie sich zu ihm, hob wie an der Terrassentür vor ein paar Stunden den Zeigefinger an ihre Lippen und flüsterte:
»Pscht! Keinen Mucks. Die Polen könnten Sie doch hören.«
Polen? Welche Polen? Hoffnung flackerte in Hannes Blick. Seine Gefängniswärterin hatte jedoch in der Zwischenzeit eine Rolle Klebeband aus ihrer riesigen Umhängetasche gezaubert und war jetzt damit beschäftigt, einen Streifen abzureißen. Hannes Chancen, gehört zu werden, schwanden mit jedem Millimeter, den sie von der Rolle löste, sodass er schnell Luft in seine Lungen pumpte und zum Schreien ansetzte.
»Hiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiilf …«, weiter kam er leider nicht.
Frau Blum war definitiv eine der ganz schnellen Sorte. Sie konnte wirklich zufrieden mit sich sein. Nur merkwürdig, dass sie jetzt anfing zu weinen.
139
Der Manta steckte fest. Verzweifelt drückte Erika das Gaspedal ganz durch. Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch, aber sie kamen nicht voran.
»Verflixt!«, schrie sie. »Verflixt, verflixt, verflixt!«
»Alle raus!«
Offensichtlich war Claudia die Einzige, die noch einen kühlen Kopf bewahrt hatte und mit Hindernissen, egal welcher Art, kurzen Prozess machte, denn sofort fügte sie hinzu:
»Los, bewegts euch! Wir schieben an!«
Als sie dann neben Wolfgang am Kofferraum stand, bereit gegebenenfalls mit Herkuleskräften den Wagen allein aus dem Schlammloch zu wuchten, schaute Krautschneider erst einmal nach.
»Tja, des sieht nicht gut aus. Die Hinterräder haben sich festgefahren. Da kommt so ein Sportwagen nicht von allein raus! Wir haben sozusagen die einzige Matschgrube weit und breit gefunden. Muss noch von dem Gewitterguss von gestern sein und wegen der schattigen Lage is es nicht ausgetrocknet und das Wasser hat sich natürlich auch gut sammeln können, weil hier eine Mulde is …«
»Krautschneider!«, riefen Wolfgang und Claudia ungeduldig im Chor.
»Ja, ja, schon gut. Man wird doch mal ein bisschen Bestandsaufnahme machen dürfen, bevor man sich mit wenig Aussicht auf Erfolg verausgabt! Hatte ich schon erwähnt, dass hier eigentlich nur ein Wagen mit Allradantrieb rauskäme? Vielleicht sollten wir lieber einen Traktor besorgen, der uns rauszieht …«
»Schluss mit der Klugscheißerei. Wir sind voller Hoffnung. Also, stell dich zwischen uns und bei drei wird geschoben. Erika, bist du bereit?«
Claudia wartete aber keine Antwort ab, sagte auch gleich »drei« und es wurde gedrückt, geschoben, gestemmt, geflucht. Der alte Wagen gab alles. Auf Erikas Stirn hatten sich vor Konzentration Schweißperlen gebildet. Aber immer noch saßen sie im Schlamm fest. Verzweifelt gab sie wieder Gas, wobei ihr Herz blutete, weil ihr Schnuffel so litt. Immer noch nichts. Ihr war mittlerweile auch so, als ob von hinten niemand mehr dagegen drückte. Schnell warf sie einen Blick in den Rückspiegel und erschrak. Sie drehte sich um,
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