Der Semmelkoenig
was mit der ganzen Sache zu tun. Ruf mich zurück und übrigens, ich hab diesen Verdacht schon seit ein paar Stunden!« Nein, unmöglich! Schnell legte sie auf. Gut, dann musste sie eben doch wieder alleine arbeiten. Kurz entschlossen wählte sie Georgs Nummer; aber auch er ging nicht ran!
»Ich protestiere aufs Schärfste! Sie können doch nicht die Öffentlichkeit ausschließen!«, klang Rötzers Stimme jammervoll empört zu ihr herüber. »Das geht uns alle an. Hier herrscht Kriminalität ungeahnten Ausmaßes und der Polizeistaat versucht zu vertuschen. Das ist ein Skandal!«
Claudia wunderte sich, ob überhaupt jemand der konservativen Bevölkerung solche reißerisch sozialkritischen Formulierungen verstehen würde. Gott sei Dank gab es in der Redaktion anscheinend einen Lektor, der extra zur Übersetzung von Carstens Beiträgen eingestellt worden war.
»Nö, ich beweg mich jetzt keinen Millimeter von der Stelle!«, kam der trotzige Protest des Journalisten auf eine gemurmelte Anweisung des Kommissars. »Ich kann warten!«
»Kein Problem!«, auch Maus wurde ungewöhnlich laut. »Dann warten Sie mal schön. Wir sind hier sowieso fertig. Sie können sich ja dann mal nützlich machen und den Müll einsammeln, anstatt ihn zu schreiben. Ansonsten steht natürlich meine Einladung zur Pressekonferenz um 17.30 Uhr. Ich würde mich freuen, Sie und Ihren Kollegen vom ›Anzeiger‹ bei mir begrüßen zu dürfen. Schnittchen bringen Sie aber selber mit!«
Bravo, klatschte Claudia im Geiste Beifall und musste wegen Rötzers Gesichtsausdruck grinsen. Doch schnell wurde sie wieder ernst. Schnittchen? So hatte Georg sie manchmal genannt, wenn er besonders liebevoll wurde.
Oh, dieses Schwein! Wie vielen anderen Frauen hatte er diesen Kosenamen gegeben? Vermutlich allen! Er war in diesen Dingen etwas faul und einfallslos. Aber – kombinierte die Betrogene – in einem bestimmten Falle hieß seine Geliebte vermutlich »Rotkäppchen« und die war minderjährig und jetzt tot! Plötzlich wurde ihr schlagartig klar, wo sie ihren Ex-Verlobten finden würde. Hastig suchte sie die Autoschlüssel und lief zu ihrem Wagen.
82
Der nasse Socken machte ein schmatzendes Geräusch im Schuh, das war nun einmal nicht zu ändern. Hannes sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Den Kaffee bei Sybille musste er wohl auf ein anderes Mal verschieben, denn er hatte keine Lust, so bei ihr aufzulaufen. Es reichte schon, dass er jetzt diese arme Frau Klöter mit seinem Gestank belästigen musste. Wenn sie zugänglich und zügig seine Routinefragen beantworten würde, könnte er noch schnell zu seiner Pension fahren und die Schuhe wechseln, bevor er wieder ins Revier fahren wollte. Energisch drückte er die Klingel. Ein schöner Ton – wohl eine Sonderanfertigung – aber nichts rührte sich. Sie war also immer noch nicht zu Hause. Merkwürdig! Vielleicht machte sie mit ihrem Sohn einen Ausflug. Aber warum beantwortete sie die zahlreichen Anrufe nicht? War sie verreist?
Laut Klingelschild bewohnte sie das Erdgeschoss mit Garten. Es könnte nicht schaden, wenn er mal um das Haus ging und nachsah. Als er um die Ecke bog, musste er wieder andächtig innehalten. Ach, war das hier wunderschön!
Auf dem Grundstück standen herrliche, alte Bäume. Er konnte in einem von ihnen ein Baumhaus entdecken – der Traum eines jeden kleinen und großen Jungen. Der Garten war selbst für eine Kleinstadtwohnung bemerkenswert groß. Der gepflegte Rasen wurde lediglich von einem Kanal begrenzt und Hannes konnte eine stolze Entenmutter sehen, die ihren Nachwuchs anführte. Aufgeregt fiepend versuchten die Kleinen, nicht den Anschluss zu verlieren und eine schöne gerade Linie zu halten. Eine dicke Ringeltaube steuerte einen Zweig an, um sich dort vermutlich etwas ausruhen zu können. Jedoch ließ ein einfaches physikalisches Gesetz das nicht zu. Ein hässliches Knacken mit Blätterrascheln verhieß nichts Gutes und der Vogel musste sich empört gurrend einen anderen Landeplatz suchen.
Fast schon etwas aufgeregt öffnete Hannes das kleine Gartentor, um dieses Märchenland zu betreten. Beinahe erwartete er schon, noch ein schlankes, großäugiges Reh zu sehen, jedoch war der Garten leer. Auch auf der Terrasse war niemand. Verwaist stand dort eine Liege. Daneben lag – vermutlich heruntergerutscht – ein Buch. Hannes hob es neugierig auf. »Wie bringe ich die Aggressionen meines Kindes unter Kontrolle?« stand da über einem Foto mit einem wirklich angsteinflößend
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