Der Serienmörder von Paris (German Edition)
über Spanien auf dem Weg nach Portugal befinde. Die Sprechstundenhilfe wollte weitere Einzelheiten erfahren und den Anrufer mit der Aussicht auf eine Belohnung in die Praxis locken, doch er lehnte ab. Er sagte, er besitze noch einen Brief jüngeren Datums, den er aber nicht abgegeben, sondern per Post zustellen wolle. Darüber hinaus meinte er nur noch, dass Braunbergers Bruder Marcel gut beraten sei, Paris ebenfalls zu verlassen.
Der Brief kam am folgenden Tag an. Er war vom Quai Valmy aus geschickt worden, nicht unweit der Wohnung der Braunbergers. Erneut wurde derselbe falsche Kosename von Braunbergers Frau benutzt. In dem undatierten Schriftstück, verfasst auf gewöhnlichem Papier, bat der Schreiber Madame Braunberger in knappen Sätzen, „den Anweisungen des Überbringers Folge zu leisten“. Ihr angeblicher Mann versprach, dass sie sich schon bald wiedersehen würden, und richtete ihr „all meine Liebe“ aus, wobei er erneut untypische Phrasen benutzte und den Brief mit seinem Titel Dr. Braunberger unterzeichnete, was höchst ungewöhnlich war.
Seine Frau hatte danach nichts mehr von ihrem Mann gehört, weder postalisch noch fernmündlich. Am 3. Juli tauchte ein junger Mann in einer Naziuniform bei ihr auf und stellte sich als „Deutsche Polizei“ vor. Er ermittle im Fall eines Doktors, der im Ersten Weltkrieg als Mediziner gedient habe und nun eine Privatpraxis führe. Die Concierge erwiderte, dass niemand, auf den die Beschreibung zutreffe, in dem Haus lebe – was praktisch gesehen sogar stimmte, bedachte man Braunbergers kürzliches Verschwinden. Der Mann verließ dann das Gebäude. Braunbergers Frau erfuhr nichts Näheres über den Grund der vermeintlichen Ermittlung.
Die französische Polizei fand niemals heraus, ob es sich bei dieser Person um einen echten deutschen Beamten handelte oder um einen Betrüger. Was auch immer der Grund für das Erscheinen gewesen sein mag – Madame Braunberger sah sich dadurch nicht zum Handeln gedrängt und meldete das Verschwinden ihres Mannes recht spät. Der Zeitpunkt mutet im Kontext betrachtet auffällig an, denn es war nur einen Monat, nachdem sich Petiot durch die Zahlung einer Geldstrafe aus dem Betäubungsmittelverfahren winden und seinen Beruf weiterhin ohne Einschränkung ausüben konnte.
Davon abgesehen, hätte eine frühzeitige Meldung des Falls Madame Braunberger in diesen Jahren jedoch keine Unterstützung seitens der Behörden gewährleistet. Die Juden im besetzten Paris hatten juristisch gesehen so gut wie keine Rechte, und Madame Braunberger durfte nicht auf Mitgefühl oder Sympathie hoffen. Dadurch verharrte sie weitere drei Monate, bis sie den Fall endlich auf Drängen ihres Hausmädchens am 25. September 1942 auf der Polizeiwache Saint-Vincent-de-Paul anzeigte. Sie hatte zu dem Zeitpunkt das Gefühl, nichts mehr zu verlieren. Der diensthabende Wachtmeister legte eine Akte an, doch sie wurde bereits am 9. Januar 1943 geschlossen, und zwar aufgrund der tragischerweise nicht zutreffenden Tatsache, dass Braunberger nach Hause zurückgekehrt sei, wie vermerkt wurde.
WENN MAN WEISS, WO EIN APFEL HERANREIFT, MUSS MAN SICH NUR NOCH UNTER DEN BAUM STELLEN UND ABWARTEN, BIS ER HERUNTERFÄLLT.
(Kommissar Lucien Pinault)
D er wahnsinnige Schlächter – das war kein Propaganda-Mythos der Nazis“, schrieb Auslandskorrespondent Dudley Ann Harmon von der United Press am 31. August 1944. „Der Mann mit der Ausstrahlung des Bösen hatte einen dunklen Teint, die sadistischen Merkmale eines Krafft-Ebing-Alptraums und die Schläue eines Wissenschaftlers.“ [Krafft-Ebing: Verfasser der Psychopathia Sexualis , einer Sammlung von Fallbeispielen aller nur erdenklichen sexuellen Abweichungen, erstmalig erschienen 1886, A. T.] Durch die Befreiung von Paris wurde das Gerücht, es handle sich bei Petiot um eine Erfindung der Nazis, um die Bevölkerung zu verunsichern und zu ängstigen, ein für alle Mal entkräftet. Ein Polizeibeamter bemerkte, dass er sich gewünscht hätte, dass es sich bei dem Mann um ein Phantom handle. „Er ist aber leider ein Mensch aus Fleisch und Blut. Wir haben bereits 54 Opfer identifiziert, und nur der Himmel weiß, wie viele es noch sind.“
Paris-Soir schätzte die Zahl der Opfer auf ungefähr 50. Unabhängig von den zwischenzeitlich ans Licht gekommenen Tatsachen vermuteten auch die Pariser jedoch weitere Morde. In einem anonymen Brief beschuldigte man Petiot, einer 29-jährigen Italienerin namens Laetitia Toureaux in einer
Weitere Kostenlose Bücher