Der Siegelring - Roman
diese Angelegenheit total anders gesehen hätte. »In windigen Aktien hätte er es garantiert schlechter angelegt.«
Rose zog die Beine unter sich und lehnte sich im Sessel zurück. Es schien, dass ihr durch meine Bemerkung ein Stein vom Herzen gefallen war. Sie naschte von den Pralinen.
»Ich weiß, sollte ich nicht, aber sie sind so köstlich. Aber Julian hat mir zusätzlich die ersten Aufträge vermittelt. Er und meine Mutter. Sie kennen unheimlich viele Leute.«
»Was für Aufträge übernimmst du gewöhnlich? Restaurierungen? Oder wird mehr deine Kreativität verlangt?«
»Beides, obwohl ich häufiger vor einem Scherbenhaufen stehe. Wenn es venezianische sind, glaub mir, dann verlangt das heftige Kreativität! Aber es gibt auch Leute, die moderne Glasfenster oder Türfüllungen haben wollen, und da kann ich dann, wenn die Auftraggeber nicht allzu genaue Vorstellungen haben, selbst etwas entwerfen.«
»Und richtige Glaskunst?«
Ich wies auf eine herrlich klare und wunderbar flie ßende Skulptur, die auf einer schwarzen Lackkommode stand.
»Ich nehme mir manchmal die Zeit dafür. Wenn du magst, zeige ich dir bei Gelegenheit, was ich so bisher entworfen habe.«
»Verkaufst du deine Werke auch?«
»Selten.«
»Stellst du aus?«
»Nur in dem kleinen Vorraum. Ich, na ja - ich kann mich nicht besonders gut verkaufen, weißt du. Julian hat oft gesagt, ich soll in der Richtung mal was unternehmen. Aber irgendwie...«
»Julian hat ebenfalls einen Agenten gehabt, der für ihn das Geschäftliche geregelt hat. Ich glaube, Künstler sind so!«
»Ob ich eine Künstlerin bin, weiß ich noch nicht so genau!«
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, hörten wir die Wohnungstür zuschlagen, und ein schlaksiges, zirka vierzehnjähriges Mädchen fegte herein. Sie sah mich nicht, sondern lief schnurstracks auf Rose zu und umarmte sie - Küsschen rechts, Küsschen links. Sie war lange nicht so puppig wie Rose, obwohl sie, nachdem die Proportionen sich nach der Pubertät wieder gerichtet
haben würden, sicher eine attraktive junge Frau werden würde. Ihr Gesicht wirkte härter, wahrscheinlich bedingt durch eine markante Nase und stärker ausgeprägte Jochbögen. Ihre Haare aber waren genauso silbrig blond wie die von Rose, und sie trug sie zu einer Art seidigem Rasierpinsel zusammengebunden im Nacken. Alles an dem Mädchen war im Wachstum begriffen.
»Hey, prima, dass du schon so früh da bist. Ich wollte dich nämlich überreden...«
Wozu sie Rose überreden wollte, blieb ungesagt. Rose drehte das Mädchen zu mir um und sagte: »Begrüß bitte erst mal meine Schwester Anita. Anita, was du hier siehst, ist ebenfalls eine Schwester von mir. Cilly wird sie gerufen.«
Cilly mochte wohl überrascht sein, wahrte aber ein stilgerecht cooles Verhalten.
»Hi, Schwester-Schwester. Stammst du von Mama oder Papa ab?«
»Von meinem, nicht von deinem Vater«, klärte Rose sie kurz und bündig auf.
»Ah, dem Sängerknaben!«
»Cilly!«
»’tschuldigung!«
Das Mädchen hatte offensichtlich seine Zunge nicht recht unter Kontrolle, war sich dessen aber jetzt peinlich bewusst geworden. Sie lief bis zu den Ohrenspitzen rot an. Zumindest gelang ihr nun ein passabler Rettungsversuch.
»Ihr seht euch ähnlich, Rose. Ich meine, nicht so wegen der Haare und so, sondern irgendwie um die Augen rum. Obwohl deine eine geradezu irre Farbe haben, Anita. Sie schillern. Sind das Kontaktlinsen?«
»Nein, pur Natur. Man sagt allerdings gemeinhin, dass sie grau seien.«
»Und die Haare?« Sie lächelte mich an, freundlich, neugierig. »Sind die in echt so schwarz?«
»Die Haare? Ja, die sind auch echt.«
»Wir sind so richtig Schneeweißchen und Rosenrot«, gluckste Rose.
»Das ist schon stark. Wie lang sind die?«
Ich trug meine Haare, ein Vermächtnis von Uschis Großmutter, einer Libanesin, meistens geflochten und zu einem Knoten aufgesteckt. Aus rein praktischen Erwägungen.
»Sie reichen mir etwa bis zum Po.«
»Wow! Wie lange lässt du sie schon wachsen?«
»Seit ich denken kann! Und du?«
»Seit einem Jahr. Es geht tierisch langsam.«
»Keine Sorge, sie wachsen stetig. Aber ich sag dir gleich, lange Haare bedeuten Arbeit!«
»Macht nix.«
Cilly musterte mich weiter prüfend, so als ob sie verschiedene Puzzlesteine in ihrem Gedächtnis zu einem Bild zusammenfügte. Ich hielt ihrem Blick stand. Sie hatte ein offenes Wesen, und mir gefiel ihre Geradlinigkeit. Auch wenn sie vielleicht eine Spur zu direkt war.
Die Puzzlesteine
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