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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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war und schließlich bei ihm gelandet war, da niemand sonst meine derzeitige Adresse kannte. Es war eine erstaunliche Leistung aller Beteiligten.
    Mir zitterten die Knie, als ich den zweiten Umschlag hervorzog. Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich in meinen Lieblingsohrensessel. Es war schon dämmerig geworden, und ich knipste die Leselampe an, um mit bebenden Fingern das starre Papier aufzureißen. Was mochte Julian so wichtig gewesen sein, dass er es mir sogar nach Gran Canaria geschickt hatte? Ein besonderes Andenken? Ein Geschenk?
    Ein Brief und ein Lederbeutelchen kamen zum Vorschein.
     
    Meine liebe Tochter, liebe Anahita, in den letzten Tagen drängt es mich zunehmend stärker,
dir dieses kleine Erbstück aus meiner Familie zukommen zu lassen.
    Als meine Eltern starben - Anita, du erinnerst dich sicher noch an Oma Marie und Opa Georg, auch wenn du noch sehr klein warst -, erhielt ich als Erinnerung an sie diesen Ring. Er ist seit vielen Generationen in der Familie und wurde offensichtlich stets an eines der Kinder weitergegeben. Soweit ich von meiner Mutter weiß, war die Erste, die ihn trug, meine Ururgroßmutter Graciella Coloman. Sie muss so um die Zeit Napoleons gelebt haben, wenn ich es richtig nachgerechnet habe. Doch der Siegelring selbst ist sehr viel älter. Schau ihn dir gut an, ich vermute, es ist eine antike Arbeit. Ich habe ihn von einem Fachmann beurteilen lassen, der ihn auch ein wenig aufgearbeitet hat. Aber er bestätigte mir, dass er gut erhalten sei für ein derart altes Schmuckstück.
    Liebes Kind, meine geliebte Tochter, mich hat diese kleine Gemme tief angerührt, denn irgendein Mensch hat den Ring einst mit einer liebevollen Absicht verschenkt. Das kannst du aus der Widmung entnehmen, die in seiner Innenseite eingraviert ist. Vielleicht erinnerst du dich ja sogar an die Geschichte, zu der er mich vor Jahren einmal inspiriert hat, die kleinen Episoden aus dem römischen Leben, die uns beiden immer so viel Freude bereitet haben.
    Du bist mein dankbarstes Publikum gewesen, wenn ich die Schatten und das Licht aus der Vergangenheit beschworen habe. Trag diesen Ring manchmal für mich. Ich verlange natürlich nicht, dass du es zum immerwährenden Gedenken tust, du wirst deine Aufmerksamkeit bald auf andere Dinge lenken.
    Wir haben uns seit vielen Wochen nicht mehr gesehen, Telefonate und Briefe sind nur eine schwache Verbindung gegenüber einem persönlichen Treffen. Ich
würde dich gerne in die Arme schließen und dir sagen, wie sehr ich dich liebe.
    Dein Vater Julian
     
    Mir tropften die Tränen von den Wimpern und nässten den Umschlag. Ich legte den Brief zur Seite und zwinkerte sie fort. Dann zog ich das Lederbeutelchen auf. Ein goldener Ring kullerte heraus. Nach erstem Anschein in der Tat ein antikes Stück, fast sicher römischer Herkunft. Eine ovale, blassrote Gemme war in das Gold eingefasst, der Stein vermutlich ein Karneol, der sich wegen seiner dünnen weißen Schichtung auf dunklem Grund besonders für Intaglien eignete. Blutrot erschien das eingeschnittene, sich aufbäumende Pferdchen. Eine wunderbare, sehr feine Arbeit von großer Lebendigkeit und Klarheit. Ein Siegelring vielleicht, denn das Pferdchen würde im weichen Wachs erhaben wirken. Innen im Ring lief eine winzige Gravur um, die ich mit einiger Mühe unter der hellen Lampe entzifferte. »AD PERPETUAM MEMORIAM« hieß es. Zum immerwährenden Gedenken.
    Der Ring passte auf meinen rechten Mittelfinger. Langsam streifte ich ihn über meinen Finger. Ein mächtiges Schaudern packte mich. Und dann sah ich ganz deutlich das Gesicht eines Mannes vor mir. Seine kurz geschnittenen Haare waren schwarz, grau durchzogen sein lockiger Bart. Ein Gesicht, vom Leben gezeichnet, gleichzeitig auch voller Kraft und Güte. Quer über Stirn und Wange zog sich eine schlecht verheilte Narbe und verschwand in dem Bart.
    Das Bild verlosch.
    »Julian, was hast du mir da geschickt?«, flüsterte ich heiser. Doch aus der anderen Welt erhielt ich keine Antwort. Mein Gesicht war nass von Tränen, und die Trauer schlug wie eine Woge über mir zusammen.

    Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder einigerma ßen gefangen hatte. Ich stand auf, um das Fenster zu öffnen und in den Nachthimmel zu schauen. Er war mondlos und sternenklar. Fern am Horizont stand die Venus, hoch über mir flimmerte der rötliche Mars, und Jupiter, in Konjunktion mit Saturn, bildete den hellsten Fleck am Firmament. Weit über den Himmel zog sich die matt schimmernde

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