Der Siegelring - Roman
Milchstraße. Und vielleicht, irgendwo dort in der Unendlichkeit mochte nun die Seele meines Vaters ihre neue Heimat gefunden haben. So hatte er es mir als Kind häufig erklärt. Ein wenig tröstete mich jetzt diese Vorstellung. Ich schickte einen liebevollen Gruß an die Sterne und schloss die eindringende Kälte wieder aus.
Noch einmal nahm ich das Schreiben zur Hand und las es gründlich. Ein bisschen wusste ich von Julians Familie. Von einer seiner Tanten hatte er die Neigung übernommen, sich mit dem Stammbaum zu beschäftigen, und wenn er seine Ururgroßmutter Graciella Coloman nannte, stimmte das sicher. Ich nahm mir vor, demnächst mal tiefer in die Geschichte meiner Vorfahren einzusteigen. Erbe verpflichtet, dachte ich und konnte wieder lächeln. Auf diese Weise hatte Julian schon als Kind oft meine Neugier angeregt und mich dazu gebracht, mich emsig und gründlich mit einem Thema zu befassen. Mit diesem Ring war es ihm erneut gelungen.
Ich wollte den Brief zurück in den Umschlag stecken, als mich der zweite Schock des Abends traf. Mein Blick fiel auf das Datum.
Julian hatte ihn zwei Tage vor seinem Tod geschrieben.
Ich rief Rose am nächsten Morgen an und entschuldigte mich. Ich musste unbedingt einen Tag für mich haben,
um mich zu sammeln. Sie fragte nicht nach, bat mich nur zu sagen, ob sie mir helfen könne.
»Nein, Rose. Da ist etwas, das ich alleine erledigen muss.«
»Ist es wegen der Wunden?«
»Nein, nein. Mir geht es so weit gut. Ich bin morgen wieder im Atelier.«
»Ja, schön. Bis dann.«
Ich legte auf und machte mich auf den Weg. Mein Ziel war Ahrweiler, denn der Siegelring mit der Gemme hatte das starke Bedürfnis in mir geweckt, mich in authentischer römischer Umgebung aufzuhalten. Und das wurde dort geboten. Vor einigen Jahren war man bei den Ausbauarbeiten für die Bundesstraße auf eine römische Villa aus dem zweiten Jahrhundert gestoßen. Inzwischen war die Ausgrabungsstätte zu einem Museum umgestaltet worden, das erlaubte, diese Villa als Ganzes zu begehen. Ich war zwar im Zuge meiner Studien schon einmal dort gewesen, diesmal aber trieb mich weniger fachliches Interesse, sondern vielmehr der Wunsch nach gefühlsmäßigen Eindrücken dort hin. Julian hatte mir schon zu Schulzeiten auf diese Weise den Geschichtsunterricht schmackhaft gemacht. Er hatte ein Talent, durch seine Betrachtungsweise die Menschen lebendig zu machen, die einst gelebt hatten, die Töpfe geformt und Bücher abgeschrieben, die Stoffe gewebt und Kühe gemolken hatten, die Tempel bauten oder Möbel schnitzten. Für ihn waren solche Alltäglichkeiten wichtig. Er erzählte, dass sie sich dabei in die Finger geschnitten hatten, während der Arbeit lachten und scherzten, sich mit dem Hammer auf den Daumen schlugen oder sich ihre Sorgen erzählten. Und so wollte ich jetzt, mit dem Ring an der Hand, der beinahe zweitausend Jahre alt war, ein römisches Landhaus betrachten.
Es war kühl in dem Museum, das eigentlich nur eine Traghalle über der eigentlichen Ausgrabungsstätte war. Da es ein ganz normaler Donnerstagmorgen war, konnte ich in relativer Einsamkeit herumstreifen. Nur eine Schulklasse von etwa fünfzehn Halbwüchsigen wurde in strenger Ordnung von zwei Lehrkräften durch die Räume geführt. Sie waren erstaunlich still und machten sich sogar Notizen über die Erklärungen, die sie erhielten. Ich begann mit meinem Rundgang an der entgegengesetzten Seite der Villa und schlenderte nachdenklich durch Wohnräume, Küche und Vorratskeller, besuchte das Hypocaustum, die damalige Fußbodenheizung, wanderte entlang dem Peristyl zum Badehaus mit seinen verschiedenen Räumen für kalte, warme und heiße Bäder, inklusive natürlich der wassergespülten Toilette, und begab mich dann zu den im ehemaligen Wirtschaftshof aufgestellten Vitrinen, in denen Geschirr, Metallarbeiten und Werkzeug ausgestellt waren, die auf dem Grund gefunden worden waren. Wie schon so oft, wenn ich mich mit der römischen Geschichte befasste, bewunderte ich die Lebensart der Menschen jener Zeit. Ihr technischer Standart war ungemein hoch, so groß war der Unterschied zu unserer heutigen Zivilisation gar nicht. Voller Bewunderung für die Feinheiten der Ausführung betrachtete ich ein Sicherheitsschloss, die kosmetischen und chirurgischen Instrumente, die rechteckigen Glasscheiben, die in die Fensterrahmen eingebracht worden waren. Es waren lichtdurchflutete Räume gewesen, keine düsteren Kammern, in denen man lebte. Dann blieb mein
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