Der Siegelring - Roman
zu sein.«
»Wenn man es kritisch betrachtet, könntest du Recht haben. Was mache ich jetzt?«
»Den Ton wieder zusammenkneten und von vorne beginnen.«
»Na gut. Und was tust du da?«
Annik hatte eine hohe Schale aus beinahe trockenem Ton auf dem Schoß und bearbeitete die Innenseite mit einem Metallgriffel.
»Ich stelle eine Formschale her.«
»Was ist das? Wieso bringst du das Muster innen an? Das ist doch unsinnig!«
»Nein, das ist sehr sinnvoll. Denn wenn die erst einmal gebrannt ist, benutze ich sie, um darin Schalen zu drehen, die außen das Muster haben. Das, was jetzt eingekerbt ist, ist dann erhaben. So wie ein Siegelabdruck einer Gemme, weißt du?«
»Zeig mal!« Gratia beugte sich über Anniks Schulter. »Oh, das ist ja dasselbe Muster wie auf Rosinas Glasschale. Das kannst du auch? Toll!«
»Notgedrungen. Eigentlich hätte ich einen Metallstempel benötigt, damit das Muster gleichmäßig wird, aber euer Schmied hat an jeder Hand fünf linke Daumen! Wenn es nach ihm ginge, könnte ich gerade mal ein Hufeisen als Formstempel nehmen.«
Gratia kicherte und setzte sich wieder an die Drehscheibe.
»Du hast Rosina vorgestern in ihrem Sanktuarium besucht. Wie findest du das, was sie herstellt? Hat sie auch fünf linke Daumen?«
»Überhaupt nicht! Ich bin begeistert von ihren Gläsern. Sie arbeitet sehr sorgfältig und akkurat und hat ein großes künstlerisches Talent.«
»Ja, das hat sie wohl.«
»Du könntest etwas in Sorgsamkeit und Akkuratesse von ihr lernen. Das Ding sieht schon wieder bedenklich wackelig aus.«
Während Gratia den unförmigen Becher erneut zu einem Tonklumpen zusammenklatschte, dachte Annik an den Besuch bei Ulpia Rosina. Die Hausherrin hatte sie aufgefordert, sich ihre Arbeiten anzusehen. Sie hatten sich in freundschaftlichen Fachsimpeleien über ihre unterschiedlichen Werkstoffe und deren Gestaltungsmöglichkeiten ergangen, und wenn sie auch nur wenige private Worte gewechselt hatten, so war Annik doch der Meinung, dass sich zwischen ihnen ein zartes Fädchen spann, das zu einer Freundschaft führen konnte. Ulpia Rosina hatte vieles, was sie an ihr bewunderte: ihre sanfte, vornehme Art, ungekünstelt, aber wenn sie wollte, durchaus distanziert, ihre umfassende Bildung, zu der auch das Griechische gehörte, ihr künstlerisches Talent und auch die Stilsicherheit, mit der sie sich zurechtmachte und kleidete. Annik selbst fühlte sich in diesen Bereichen weit unterlegen, zwar hatte auch sie
eine gute Ausbildung genossen, aber sie war auf andere Ziele gerichtet. Wenn sie selbst auch das Talent besaß, mit Ton recht geschickt umzugehen, hatte sie das nie als künstlerische Tätigkeit aufgefasst.
Und was ihre Kleidung anbelangte, so war sie, ebenso wie in allen anderen Dingen, dem Praktischen untergeordnet, nicht dem Selbstzweck. Das schöne Gewand, das Martius ihr geschenkt hatte, hatte sie noch nie getragen - genauso wie den Ring, der gut eingewickelt in dem Kleiderbündel steckte. Er war zu schade, um ihn bei der schmutzigen Arbeit anzuziehen. Trotz allem hatte sie das Gefühl, dass Ulpia Rosina gerade ihre zupackende, pragmatische Art zu schätzen wusste, an der es ihr möglicherweise etwas fehlte.
»Ist es jetzt besser? Schau, der Becher eiert nicht mehr!«
Stolz löste Gratia mit dem Schneiddraht das Gefäß und gab der Drehscheibe einen letzten, kräftigen Schwung. Der feuchte Ton glitt von der Mitte zum Rand, folgte den natürlichen Antriebskräften und flog mit einem Klatschen dem roten Kätzchen vor die Pfoten.
»Tja, jetzt eiert er wirklich nicht mehr.«
Gratia sagte ein sehr hässliches Wort.
»Meine Liebe, du vergiftest hier die Atmosphäre. Solche Sachen sagt man nicht vor den Ohren unschuldiger Katzenkinder. Heb das Zeug auf und zeig mir, dass du einen ordentlichen Becher formen kannst! Sollte er nicht ein Geschenk für deinen Vater sein?«
»Schon gut. Aber der kommt doch erst morgen!«
»Und der Ton muss erst trocknen, bevor ich ihn in den Ofen stellen kann.«
»Wann brennst du wieder?«
»In drei Tagen! Wenn Erwan sich von seinem Anfall von Gliederreißen erholt hat.«
»Ja, wenn die Tage kälter werden, ist er ständig lahm.
Vor allem, wenn er zu betrunken war, um den Weg in sein Bett zu finden und im Freien einschläft!«
»Das habe ich geahnt. Ich werde ihm persönlich einheizen, wenn er nicht auf den Beinen ist, wenn ich brennen will.«
»Darf ich zuschauen, wenn du den Ofen in Gang setzt?«
»Von mir aus gerne!«
»Ach nein, das geht ja
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