Der Siegelring - Roman
mit Schönheit und schuf ihre gläserne, zerbrechliche Schönheit. Sie verabscheute die Hässlichkeit und das Ungestalte. Es mochte dumm von ihr sein, Valerius Corvus auf Grund seiner äußeren Entstellungen abzulehnen, aber auch er kam ihr wohl nicht besonders herzlich entgegen. Er hatte eine unwirsche Art, ihr das ablehnende Verhalten vorzuwerfen. Annik aber sah ihn anders als die empfindliche Hausherrin, denn es entsprach den Tatsachen, dass in ihrem kriegerischen Volk, das einer deftigen Schlägerei, einem kleinen Raubzug oder gar einer ausgewachsenen Fehde ganz und gar nicht eifrig aus dem Weg ging, die Kämpen nur zu oft mit klaffenden Wunden, ausgeschlagenen Zähnen und gebrochenen Knochen nach Hause hinkten. Narben trug jeder, und niemand würde sich angewidert abwenden. Die in einer ganz anderen Umgebung erzogene junge Patrizierin aber hatte diese Art des Lebens nicht kennen gelernt. Die Veteranen der römischen Kriege waren vor ihr verborgen gehalten worden, sie hatte in der Abgeschiedenheit der Frauengemächer und -höfe gelebt und nur die kultivierten Gäste ihrer Familie, die Lehrer und ausgesuchten Diener zu Gesicht bekommen. Bis sie mit dem von blutigen Kämpfen gezeichneten, um fast zwanzig Jahre älteren Valerius verheiratet wurde. Um seiner Karriere zu dienen, so hieß es. Denn als Ehemann der Nichte des Ulpius Traianus war Valerius Corvus mit dem voraussichtlich nächsten Caesaren des Römischen Reiches in engen familiären Beziehungen verbunden. Aber zudem, das gestand sich Annik trotz ihrer verständnisvollen Beurteilung von Valerius’ Äußerem ein, musste man auch seinen Charakter in Betracht ziehen. Und zu dem wollte sie sich erst nach dem Gerichtstag ein Urteil bilden.
Sie hatten sich schon am Morgen vor dem Haus versammelt. Die Dienerschaft, die Handwerker, die Arbeiter, die Pächter, Gratias beide Hauslehrer, der Verwalter, die Haushälterin, Ulpia Rosina und Valeria Gratia. Letztere saßen rechts und links von Valerius’ Sessel oben an der Treppe zum Peristyl. Der Pater familias kam, und Stille trat ein. Annik betrachtete den großen Mann, der in der weißen, purpurgesäumten Toga langsam zu seinem Sessel schritt, mit heimlicher Aufmerksamkeit. Er machte einen strengen, würdevollen Eindruck, und es war nicht anzuzweifeln, dass ihn die Aura von Macht umgab. Sie fragte sich, welche Aufgaben er sich zu anderen Zeiten in der Colonia widmete, die Leitung des Gutes schien nicht seine Hauptbeschäftigung zu sein.
Die Fälle der vergangenen Monate wurden ihm vorgetragen. Meist waren es geschäftliche Abmachungen, die seine Einwilligung erforderten, Veränderungen in den Arbeitsabläufen, kleinere Kompetenzstreitigkeiten und Pachtfestsetzungen. Ursa verlangte eine zusätzliche Hilfskraft in der Küche und bekam Gwena, die Schwester des Stallburschen zugewiesen. Charal erhielt die Erlaubnis, dem Gesindehaus einen Unterstand anbauen zu lassen, einer der Pächter wollte sich zur Ruhe setzen und bat um eine entsprechende Regelung für seinen Sohn. Aber es gab auch zwei Fälle von Diebstahl. Ein Arbeiter hatte sich einer der Weinamphoren bemächtigt, die für den herrschaftlichen Haushalt gedacht waren, und eine Dienerin hatte Ulpia Rosina ein Schmuckstück entwendet. Anklage hatte Ursa erhoben, und Valerius Corvus hörte sich die Stellungnahme der Beschuldigten an. Der Arbeiter war störrisch. Er beklagte sich über die Qualität des Weines, der ihnen zur Verfügung stand.
»Der reine Essig, das ist es, was Ihr uns zu trinken gebt!«, schloss er seine Rede.
Annik beobachtete mit Interesse, wie Valerius darauf reagierte. Im Grunde galt diese Anschuldigung nun ihm, da er als Pater familias, als Oberhaupt aller seiner Haushaltsmitglieder, nicht nur der engeren Familie, seiner Fürsorgepflicht nicht im rechten Maß nachgekommen war.
»Woher beziehen wir den Wein für die Arbeiter, Charal?«
»Von den Weinbauern südlich von Bonna. Er ist zwar leicht, aber nicht sauer. Er hat bislang zu keiner Klage Anlass gegeben.«
»Trinkst du ihn ebenfalls?«
»Gelegentlich.«
Zu dem Arbeiter gewandt, fragte Valerius: »Hast du ein Magenleiden, dass du den Wein nicht verträgst, der für euch vorgesehen ist?«
Der Mann starrte auf seine Füße.
»Antworte!«
»Nein!«
»Dann war der Grund des Diebstahls Genusssucht!«
Der Arbeiter schwieg, er fühlte sich sichtlich unbehaglich.
»Ich zahle ihm einen Lohn, nicht wahr, Charal?«
»Ja, Dominus, er erhält den üblichen Lohn in Naturalien und in
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