Der Siegelring - Roman
gerechnet!«, empfing Annik ihn.
»Ich wollte früher kommen, aber manche Umstände... Nun, ich bin hier. Soll ich dir ein Lied zu deinem hübschen Tanz singen?«
»Bloß nicht. Deine Lieder schaffen nicht nur Freunde, und ich habe mich gestern gerade selbst unbeliebt gemacht.«
»Das flüsterten mir die Wälder zu!«
»Ach, so schnell geht das hier?«
»Manches schon. Auch, dass du den Matronenstein gefunden hast.«
Annik kam aus dem Bottich und säuberte sich die Füße.
»Ja, ich habe ihn gefunden. Ist es eines eurer Heiligtümer? Ich hoffe, ich habe nichts getan, um ihn zu entweihen.«
»Aber nein. Ich nehme an, die Äpfel waren von dir?«
»Ja.«
»Eine angemessene Gabe.«
»Wer sind sie?«
»Die Mütter. Sie waren unserem Stamm heilig. Die Römer haben die Menschen vernichtet, nicht aber die Götter. Und nun beten sie selbst zu ihnen. So läuft die Geschichte immer.«
»Gratia, sie ist Valerius Corvus’ Tochter, hat mir...«
»Ich weiß, wer Gratia ist.«
»Aha. Nun, sie erzählte mir, dass man deine Vorfahren vertrieben hat.«
»Vertrieben?« Bitter spuckte Cullen das Wort aus. »Niedergemacht, wie Tiere abgeschlachtet, das Dorf verbrannt, dem Erdboden gleich gemacht.«
»Wann war das?«
»Als Iulius Caesar dieses Land eroberte. Vor mehr als vier Generationen. Aber die wenigen, die es überlebt haben, vergessen es nicht. Einige haben es damals geschafft, in die Wälder zu fliehen. Andere waren auf Reisen. Wie meine Familie. Sie kehrten zurück und fanden - nichts. Sogar die Asche war aufgekehrt. Ordentlich sind sie, die Römer. Diejenigen, die zurückkamen, fanden nach und nach die Überlebenden. Der Wald hat es schon immer gut mit uns gemeint. Er bot sich uns als Versteck an. Von dort haben wir beobachten können, wie sich auf dem Gebiet, wo zuvor unser Dorf stand, sich unsere Weiden und Felder befanden, die Germanen von der anderen Seite des Flusses niederließen. Die Römer haben es ihnen vorgeschlagen. Es sind keine schlechten Leute, die Ubier, arbeitsam und ehrlich. Sie bauten ihr eigenes Dorf auf, bewirtschafteten wieder die Felder, züchteten ihre Rinder, Schafe und Schweine und ließen uns unbehelligt. Die nachfolgende Generation meines Volkes wagte sich wieder aus dem Inneren der Wälder hervor. Manche verbanden sich mit den Germanen. Nie aber mit den Römern.«
»Auch unser Land haben sie besetzt, sie haben die Veneter
besiegt, und so mancher Hass mag noch da und dort schwelen. Aber seit ich denken kann, haben wir in friedlicher Nachbarschaft mit ihnen gelebt.«
»Wir nicht. Vor ungefähr dreißig Jahren haben wir uns dem Aufstand der Bataver angeschlossen.« Cullen breitete die Hände aus. »Er wurde niedergeschlagen.«
Annik nickte. Es war eine traurige Wirklichkeit, dass die römischen Legionäre, gedrillt und mit strenger Disziplin geführt, letztendlich regelmäßig selbst den mutigsten Angreifern überlegen waren.
»Dein Hausherr erhielt seine Narben in jenem Kampf.«
»Ja, er sagte etwas davon, dass Barbaren wie meinesgleichen dafür verantwortlich waren.«
»Ein bitterer Geselle, nicht wahr?«
»Möglich.« Annik hatte sich zwar inzwischen einige Gedanken zu Valerius Corvus gemacht, aber sie war noch nicht so weit, sie mit jemand zu teilen. »Erzähl mir lieber von den Stammesmüttern, den Matronen, Cullen«, lenkte sie das Gespräch auf das vorherige Thema. »Ich habe meine Götter verlassen, und eventuell finde ich sie in den Matronen wieder.«
Cullen, der junge Barde mit den freundlichen braunen Augen, lächelte sie herausfordernd an und meinte: »Lass uns in die Wälder gehen, schöne Annik, dann werde ich dir von ihnen singen.«
»O nein, mein Lieber. Ich kann weder den Ofen noch Erwan alleine lassen. Es ist besser, du erzählst deine Geschichten hier. Wenn du magst, können wir uns auf die Bank vor dem Haus setzen - oder wir bleiben hier in der Werkstatt.«
»Hast du Angst, dass dein Martius davon erfährt, wenn wir uns unter den Bäumen treffen?«
»Da alle Bäume hier Ohren haben und alle Blätter wie Zungen plappern, ist das wohl nur zu wahrscheinlich.«
Cullen lachte leise und setzte sich auf einen Hocker an der Wand.
»Dann bleiben wir halt hier, wenn du glaubst, dass die Wände taubere Ohren und die Leute hier weniger wendige Zungen haben.«
»Sie werden wissen, was du mir erzählst. Also, Barde!«
Er erzählte ihr die alten Geschichten, er berichtete über die Wege der Götter und Helden, die Tore zur Anderwelt und die heiligen Stätten und
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