Der Sieger von Sotschi: Ein olympischer Roman (German Edition)
rennähnliches Befahren der Piste war verboten, denn an den Vorrichtungen zur Messung der Zwischenzeit wurde noch gearbeitet und auch das für die offizielle Übertragung zuständige Schweizer Fernsehen ließ sich mit Pistenfahrzeugen noch Ausrüstung zu den vorbereiteten Kameratürmen transportieren. Auch andere Gruppen waren unterwegs. Hundert Meter vor ihnen leitete der Pistenarchitekt und Abfahrts-Goldmedaillengewinner von 1972 Bernhard Russi persönlich eine Führung mit einer Journalistengruppe und oberhalb der Schweizer besichtigten die Deutschen. Fabian und Florian winkten sich zweimal zu, unterließen das aber als sie von russischen Helfern böse Blicke kassierten. Saubauer ließ immer wieder anhalten, um die zu fahrende Linie zu erklären. Die Besichtigung führte über die Pistenabschnitte, die man mit allerlei fantasievollen Namen betitelt hatte, wie das steile Accola Valley am Anfang, das Russian Trampoline nach der Unterquerung der Seilbahn und dann die Sprünge Bear’s Brow und der Lake Jump
,
letzterer würde der weiteste und spektakulärste der ganzen Abfahrt sein. Ein letzter Sprung, der Deer Jump
,
würde die Läufer in den Zielhang katapultieren. Die Piste war eindeutig anspruchsvoller ausgesteckt, als Fabian sie noch vom Europacup her in Erinnerung hatte, war gleich anstrengend wie die Streif, aber fünfzehn bis zwanzig Sekunden länger, und damals in Kitzbühel hätte die Piste keinen Meter länger sein dürfen.
„Gut vorg’sprungen ist halb gewonnen!“, erklärte Saubauer. „Wenn man bei einem fünfzig Meter weiten Satz zu rudern beginnt, kostet das eine halbe Sekunde. Zudem müsst ihr an den linken Pistenrand ziehen, aber wenn ihr außerhalb der blauen Linie landet, müsst ihr danach zu heftig korrigieren, um das nächste Tor fahren zu können.“
Fabian dachte für sich, das sei ja gut in der Theorie, aber um hier vorzuspringen, müsse man auch genügend Kraft übrig haben, und er hatte Zweifel, ob er mit vollem Angriff über die ganze Strecke am Schluss nicht einfach entkräftet unkontrolliert über die Kante segeln würde. Jonny zeichnete noch den geraden Steilhang bis hinunter zum Ziel auf, während der Trainer zu den roten, in drei Reihen aufgestellten Fangnetzen gleich unterhalb des Sprungs fuhr. Fabian, Justin und die anderen inklusive Stas folgten. Saubauer maß die Maschenweite der roten Netze, während oben am Zielsprung Florian, Hansi und die anderen Deutschen auftauchten.
„Die Strecke ist satanisch kräfteraubend. Das erhöht die Gefahr von fatalen Stürzen, wenn der Rennläufer hier bereits auf Reserve fährt“, erklärte Saubauer seine pedantische Kontrolle. Sein Blick fiel dabei auf einen PKW-langen, dicken Baumstamm, der nur wenig verschneit am äußeren Netz lag. Das Holzstück musste aus dem Wald kürzlich hierher gekullert sein. Saubauer rief seinen oben beim Zielsprung noch dozierenden deutschen Kollegen zu der Stelle.
Patrik und Conradin fuhren zu Jonny ins Ziel hinab, während die deutsche Mannschaft nun zum Baumstamm aufschloss. Florian drängte sich schnell zwischen Justin und Fabian. Ein paar Schritte weiter oben diskutierten die Trainer über den Stamm hinter den Fangnetzen. Sogar der Pistenarchitekt Bernhard Russi stieg vom Ziel her kommend hoch zum Baum des Anstoßes. Der zwar schon grauhaarige, aber sehr sportliche Experte ging nicht ohne etwas Smalltalk mit den jungen Ski-Rennfahrern vorbei, wünschte allen Glück und riet: „Voll angreifen am Sonntag, Luchsi. Pickelharte Pisten magst du ja.“
Fabian brachte nur ein „Danke, Herr Russi“ über die Lippen, denn Russi war auch der erste olympische Abfahrtsgoldmedaillengewinner in der Schweizer Geschichte und hatte dort in etwa dasselbe Image wie Franz Beckenbauer in Deutschland.
Die wichtigen Leute beim Baumstamm waren sich einig, das Ding sei letztes Jahr noch nicht hier gewesen und befände sich an dieser besonders sturzgefährdeten Stelle viel zu nahe am Netz. Allen war klar, dass selbst ein durch die Netze abgebremster Zusammenprall mit diesem Baumstamm fatal enden könnte.
Stas’ Kollege bei den Deutschen nahm per Handy Kontakt mit der Zentrale auf.
„Die Burschen“, wie sich Saubauer ausdrückte, schickte er zu den anderen in den Zielraum hinab, sie sollen dort mit Klaus die Materialtests vorbereiten. Zwei große Tribünen mit Kommentatorenkabinen darüber, Absperrungen für den Betreuerbereich und die Zuschauerstehplätze bildeten einen Bogen am Pistenende: das sogenannte Alpine Center.
Weitere Kostenlose Bücher