Der Sieger von Sotschi: Ein olympischer Roman (German Edition)
nun offenbar ausgezahlt hatte. Als Journalist stand er in diesem Moment nur ein paar Meter von Putin entfernt. Doch bald meldete sich sein Instinkt als erfahrener Sportreporter: Nur zwölf Hundertstel Vorsprung auf Häusle, der ja als Slalom- und nicht als Abfahrtsgenie galt, würden womöglich für den Russen nicht reichen, um oben zu bleiben. Sein Vorsprung hatte zwischendurch ja einmal fast eine Sekunde betragen und war wieder fast auf null geschmolzen. Also lag eine schnellere Fahrt durchaus drin. Andererseits: Wenn Koslow doch Gold gewinnen würde, dann hätte das besondere Quartett der jungen Olympioniken eine deutsche Silbermedaille, das wäre sehr gut, um diese Hintergrundstory am Laufen zu halten.
Der vorgezogene Siegestaumel hielt an, bis als letzter der Großen Jörg Pesenbauer, der Titelverteidiger, auf die Strecke ging. Er wurde am Ausgang des Accola Valley
grün angezeigt – zwar nur knapp, aber das reichte, damit es im Publikum still wurde und alles gebannt auf die Monitore starrte. Nur eine kleine österreichische Fangruppe schwenkte aufgeregt ihre Fahnen. Die Menge wähnte sich wieder auf der sicheren Seite, als die nächste Zwischenzeit ganz knapp rot eingeblendet wurde – nur der große Russe an der Spitze schien nicht mehr so recht an einen Sieg zu glauben, denn er wusste sicher, dass er im verpassten Zielsprung eine halbe Sekunde verschenkt hatte. Der Rückstand des Österreichers stieg allerdings allmählich an bis auf eben diese halbe Sekunde. Der Sprung geriet bei ihm wie bei Koslow zu schräg. Plus drei Zehntel wurde er auf der Ziellinie gemessen, Rang fünf für Pesenbauer und kollektive Erleichterung beim Höflichkeitsapplaus im Zielraum.
„Die Spitzengruppe ist unten. Darf man zum großen Sieg gratulieren, David Koslow?“, traute sich Garchinger am Treppchen zu fragen, während ein österreichischer Betreuer sich um den enttäuschten Pesenbauer kümmerte und der Schweizer Conradin Caratsch seine Olympia-Abfahrt mit einem zweistelligen Rang ins Ziel brachte.
„Das Rennen ist noch nicht zu Ende“, antwortete Koslow knapp auf Deutsch. Die nächsten Fahrer schienen aber Garchinger recht zu geben: Es wurden immer Ränge etwa um fünfzehn eingeblendet. Wurde Gold und Bronze für Russland und die sensationelle Silbermedaille für Deutschland Tatsache?
Der ARD-Reporter musste sich wieder konzentrieren, denn ein weiterer Läufer des jungen Quartetts war unterwegs: Justin Bend. Er schaffte den Start hinunter ins Accola Valley problemlos und wurde bei der Liveeinblendung beim Russian Trampoline mit einer halben Sekunde Rückstand gemessen, während Koslow bereits einem Reporter des russischen Fernsehens und des SNI ein paar Eindrücke schildern musste. Pesenbauer trat neben Florian Häusle, um zu gratulieren, erstarrte aber im Händedruck: „Ui – schau, dort!“ Bend hatte die halbe Sekunde Rückstand nicht größer werden lassen. Auch Garchingers Puls erhöhte sich, würde der aschblonde aus dem kleinsten deutschsprachigen Staat in diesem Rennen des Jahrhunderts eine Medaille holen? Jetzt dürfte mit seiner Livekamera nichts schiefgehen, wenn in Kürze über die Silbermedaille seines Landsmanns und über den Trumpf des Gastgebers entschieden würde. Das russische Publikum schien nicht ganz zu begreifen, dass hier Gefahr drohte. Erst als Koslow das Interview mit den Journalisten abbrach, um nun Bends Lauf zu verfolgen, kapierte auch das Publikum, dass mittlerweile nur noch drei Zehntel Rückstand jetzt am Lake Jump knapp waren. Der Liechtensteiner sprang etwas weniger weit als Koslow, aber dafür technisch einwandfrei. Der Jüngste unter den Rennläufern hatte schon in Kitzbühel mit seinem fünften Rang aufhorchen lassen, erinnerte sich Garchinger. Bis auf eine große Gruppe auf den Stehplätzen, die wie wild Schweizer und Liechtensteiner Fahnen schwenkte und ein paar Treicheln dröhnen ließ, hielt alles den Atem an, als Bend am Zielsprung auftauchte und diesen relativ kurz, aber schön auf der Ideallinie nahm. Die Zeit schien hier im Zielraum fast einzufrieren, nur die Fahnen wehten, sonst stand alles erstarrt auf den Rängen – selbst Putin –, als das Liechtensteiner Jungtalent die letzte Welle vor dem Ziel nahm.
Die Uhr blieb bei
+0,66, 6. Rang, 02:12.76
stehen.
Man atmete auf im Zielraum und applaudierte sportlich. Vielleicht hatte bei dem Neuzehnjährigen doch die Nervenstärke gefehlt, ganz vorne reinzufahren, mutmaßte Garchinger. Aber der junge Liechtensteiner hatte die
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