Der Silberbaron
sie hatte sich entschieden. Sie wollte die Du Quesnes behalten. Und er würde schon noch Vernunft annehmen. Die kleine graue Maus würde bald ihre Anziehungskraft verlieren, wenn er entdeckte, dass sein Bruder jene exotische Leidenschaft genoss, die ihre Spezialität war. Glücklich setzte sie sich nieder und begann einen Brief zu schreiben.
“Darf ich eintreten?”
“Bitte sehr.”
“Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, miteinander zu plaudern. Das will ich jetzt gern nachholen. Und Sie willkommen heißen.”
Emma lächelte Amelia freundlich an. Vor einer Weile hatte die unermüdlich schwatzende Miriam sie in ein luxuriöses Gästezimmer geführt, wo sie sich später in einem gemütlichen Sessel niedergelassen hatte, um ein wenig zu ruhen.
“Haben Sie alles, was Sie brauchen? Soll ich Ihnen eine Zofe schicken, die Ihnen bei Ihrer Toilette hilft?”
“Nein, vielen Dank. Miriam bot netterweise an, mir ihre Zofe zu schicken.” Emma deutete auf die wenigen Kleider, die über einem Stuhl lagen. “Ich reise mit wenig Gepäck und habe daher nichts Passendes für ein formelles Abendessen dabei.”
“Sie kommen aber doch herunter zum Essen, oder?”, fragte Amelia stirnrunzelnd.
“Wenn es möglich ist, möchte ich gern hier essen und früh zu Bett gehen. Außerdem habe ich Kopfschmerzen …”
Amelia eilte zu dem Stuhl und hob die langweiligen, praktischen Kleidungsstücke eins nach dem anderen hoch. Dabei wahrte sie taktvolles Stillschweigen, bis sie ein glänzendes bernsteinfarbenes Gewand hervorzog. “Das ist herrlich, so ungewöhnlich. Sicher steht es Ihnen hervorragend”, rief sie mit einem Blick auf Emmas goldbraune Augen und Haare aus. “Ihre Haarfarbe ist wirklich einzigartig, Emma!”
Emma spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Zum zweiten Mal wurde ihr heute schon gesagt, sie sei einzigartig. Von dieser jungen Frau nahm sie das Kompliment bereitwillig an. Richard Du Quesne hatte damit bestimmt nur sagen wollen, dass er sie drollig fand, eine kuriose Person, die ihm eine Weile die Zeit vertrieb. Zwar hatte sie nur eine seiner Geliebten gesehen, doch ihr war klar, dass sie den Frauen, die er sich erwählte, nicht das Wasser reichen konnte. Sie war zu dünn, zu hausbacken und trug langweilige Kleider. Nun ja, sie hatte auch nicht die Absicht, seinen Idealvorstellungen zu entsprechen!
Der Gedanke an ihren Zusammenstoß in der Bibliothek entlockte ihr ein boshaftes kleines Lächeln. Ihr Waffenstillstand hatte nicht lang angehalten, und sie war froh darum! Was fiel ihm ein, ihr von käuflichen Dirnen zu sprechen, als wäre sie irgendein schamloses Flittchen? Und wie konnte er es wagen, anzudeuten, sie begehre seine ekelhaften Annäherungsversuche? Aber das überraschte sie nicht: Männer wie er hielten sich oft für unwiderstehlich. Nun, ihr fiel es nicht schwer, ihm zu widerstehen …
Mit einiger Mühe zwang sie sich, diese Überlegungen beiseite zu schieben, und lächelte Amelia an. “Ja, das ist eines meiner Lieblingskleider. Schade, dass es so verknittert ist.”
“Wir können es der Haushälterin geben, sie wird dafür sorgen, dass es gebügelt wird. Und gegen Ihre Kopfschmerzen wird sie auch ein Mittelchen parat haben.” Amelia hängte sich bei Emma ein und zog sie mit sich zur Tür. “Sie sehen bedrückt aus, meine Liebe. Haben Sie Sorgen?”
“Ach, ein paar schon”, gab Emma nervös zu. “Wie wir alle, nehme ich an.”
“Ja”, erwiderte Amelia mit einem Seufzer.
Emma warf ihr einen scharfen Blick zu. Amelias hübsches Gesicht wirkte einen Moment lang eingefallen und bekümmert, doch ehe sie sich erkundigen konnte, was ihr fehle, sagte Amelia munter: “Kommen Sie doch mit … ich traue mich nicht, ohne Sie zum Essen zu erscheinen, Richard sieht ohnehin schon drein wie eine Gewitterwolke.”
Seufzend ergab Emma sich in ihr Schicksal.
Seine Mutter versuchte sich als Ehestifterin! Unter ihren dichten Wimpern warf Emma Lady Du Quesne, die in einem eleganten lavendelblauen Seidenkleid am oberen Ende der Tafel saß, einen verstohlenen Blick zu. Neben ihr saß Squire Petersham, ihm gegenüber seine Frau Susan, den Rest der langen Tafel nahmen die übrigen Du Quesnes und Ross Trelawney ein. Richard saß am Fußende, neben ihm Veronica, die Tochter der Petershams, und ihr gegenüber sie selbst.
Emma hatte im Salon nur ein paar Worte mit Veronica gewechselt, als sie einander vorgestellt wurden, doch es hatte gereicht, um ihr eine Abneigung gegen die junge Dame
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