Der Skorpion von Ipet-Isut
das, stellte sie plötzlich fest, beunruhigte sie nicht im Entferntesten so sehr wie die Vorstellung, dass Amenemhat starb, während sie ihn allein gelassen hatte!
„Dein Brautgeschenk für Kahotep!“
Es war ihre Schuld, was geschehen war… und jetzt starb er, genau wie ihr Vater! Schluchzend vergrub sie ihren Kopf in der Armbeuge. Sie hatte sich gewünscht, fort zu kommen aus Ipet-Isut, sie hatte sich gewünscht, Amenemhat endlich zu vergessen, und jetzt wünschte sie sich zurück in ihre Kinderzeit, in der all diese Sorgen noch nicht existiert hatten. Die Zeit vor dem unglückseligen Besuch bei dem Totenfest in West-Waset! Aber der Wunsch war nur halbherzig, wie das Dämmerlicht, das durch den Tempel kroch. Nur ein Teil von ihr wollte zurück und vergessen. Der andere suchte verzweifelt den Schatz zu greifen, von dem sie damals einen so kurzen Blick erhascht hatte.
Menkheperre war an das Krankenlager Amenemhats zurück gekehrt. Wider alle düsteren Befürchtungen hatte der Hohepriester alle Prozeduren überstanden, einschließlich des Aderlasses, den Menkheperre sicherheitshalber noch befohlen hatte. Amenemhat war ein verbissener und zäher Kämpfer, im Falle seines Lebens wie in jeder anderen Sache, die er verfolgte. Er war ganz einfach zu stur, um zu sterben, wie der Vierte Gottesdiener mit einer Mischung aus Bewunderung und Freude feststellte. Trotzdem wollte er die Sorge für ihn niemand Anderem mehr anvertrauen. Noch hatte der festgesetzte Attentäter nicht geredet. Zumindest nichts Verwertbares, was seinen Auftraggeber anbelangte. Alles, was er stets wiederholte war, dass er mit einem nach Sitte der Wüstenvölker vermummten Mann gesprochen hatte. Es war müßig zu raten, um wen es sich dabei gehandelt haben könnte, auch wenn die Amunpriester die Drahtzieher bei Hofe vermuteten.
Der Vierte Gottesdiener wog die Arzneiportionen ab. Wie lang würde es dauern, bis Amenemhat endlich wieder auf den Beinen war? Und was würde er sagen, wenn er erfuhr, wie schlimm es unterdessen in Ipet-Isut stand, und dass der Pharao keine Anstalten machte, dem Tempel seine Rechte zurück zu geben? In den Straßen Wasets gärte es ebenso.
Geschrei lenkte Deboras Aufmerksamkeit zu einem der Gerüste an der Innenmauer des Tempels. Eine der Plattformen war offenbar aus ihrer Verankerung gerissen und der darauf arbeitende Maler war abwärts gestürzt. Eine junge Frau kniete am Boden und beugte sich mit lautem Wehklagen über den Leblosen, den erschrockenen Worten der Umstehenden nach ihr Bräutigam. „Ich will dich nicht verlieren!“ hallte ihre Stimme über den Hof, Mitfühlende und Neugierige gleichermaßen an die Unglücksstelle lockend. „Ich will dich nicht verlieren! Wach doch auf! Höre mich doch! Ihr Götter, hört mich!“
Irgendjemand lief los, um einen der heilkundigen Priester zu holen.
Debora fühlte sich verbunden mit der verzweifelten fremden Frau. Sie griff in ihre Tasche und ihre Finger berührten die kleine Bastet-Statuette, die sie dort tief unten begraben hatte, um nicht an Amenemhat erinnert zu werden – sinnloser Weise. Kurz entschlossen drängte sie sich durch die wachsende Menschenmenge an die Seite der weinenden Frau, nahm deren Hand und drückte ihr das Figürchen der Katzengöttin hinein. Irritiert blickte die Fremde auf, starrte Debora und das überraschende Geschenk an. In diesem Moment schlug der Verletzte die Augen auf. Die Frau stieß einen Freudenschrei aus, küsste die Bastetfigur, dann ihren Verlobten, wieder und wieder, Dankesworte an die Göttin murmelnd.
Da hatte Debora die große Pforte des Ptahtempels schon hinter sich gelassen. Sie fragte sich nicht mehr, was sie tun sollte. Mit einem Mal konnte sie den Weg klar sehen, und sämtliche Hindernisse hatten ganz einfach an Bedeutung verloren. Alle Fragen waren überflüssig geworden. Es interessierte sie auch nicht mehr, was andere Menschen über sie dachten, nicht einmal, was ihr Vater gesagt hätte, wenn er sie jetzt gesehen hätte. Sie begann zu laufen und dann zu rennen. Sie wollte nicht ihr Ziel erreichen und nur noch Tod und Zerstörung vorfinden wie auf ihrem Hof damals; sie wollte diesmal nicht zu spät kommen!
Amenemhat musterte den Nachthimmel. Von seinem Bett aus konnte er gerade so weit die Sternkonstellation erkennen, um ungefähr die Stunde bestimmen zu können. Aber wie viele Tage waren vergangen seit seinem letzten klaren Moment? Wie war sein Zustand überhaupt? Nicht so schlecht, antwortete er sich selbst, da
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