Der Sog - Thriller
dem vergilbten Einband waren Sterne und mystische Symbole, ein phantastisches Bild, das den nüchtern beschreibenden Inhalt Lügen strafte. Tatsächlich war das Buch so langweilig, dass Suzette nie weiter als bis zum ersten Viertel geblättert hatte.
» Krieg ich einen Pan?«, fragte Quincy.
» Wie bitte, Schatz?«
Quincy drehte sich um. » Ich will keinen Elefanten. Aber wie wär’s mit einem Pan?«
Suzette sah, dass sie ein Papier in der Hand hielt. » Zeigst du es mir?«
Quincy brachte den Zettel. Suzette wischte sich die Hände an der Schürze ab und nahm ihn.
Es war eine halbe Seite, aus einem Buch gerissen, das vermutlich seit hundert Jahren nicht mehr gedruckt wurde. In der Mitte der Seite war die Radierung eines Satyrs unter einem Nachthimmel, der sich die Hände rieb und neben Nymphen in einem Teich herumtollte. Suzette blinzelte – er trug eine gewaltige Erektion zur Schau. Der größte Teil des Textes unter dem Bild war abgerissen worden, man konnte nur noch lesen: » Pan, griechischer Gott, Sohn des Hermes …«
» Kriegen wir einen?«
Suzette antwortete nicht. Auf einer Stelle zwischen dem Stich und dem herausgerissenen Rand der vergilbten Seite standen drei mit Kugelschreiber aufgemalte Fragezeichen: ??? Sie konnte es natürlich nicht wissen, aber sie war überzeugt, es war die Handschrift ihres Vaters.
» Nein, ich glaube nicht«, sagte sie leise.
Sie faltete das Papier und steckte es in die Schürzentasche. Pan? Es musste natürlich nichts zu bedeuten haben, einfach etwas, was ihm aufgefallen war, und das er aufgehoben hatte. Aber die Radierung löste ein merkwürdig beunruhigendes Gefühl in ihr aus. Warum hatte er es aufgehoben?
Und warum hat er es uns hinterlassen?
» Warum nicht?«, fragte Quincy. » Sie sehen lustig aus. Er hat keine Hose an!«
» Ich glaube nicht, dass du so einen haben wolltest, Zuckerschnäuzchen.« Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. » Komm, wir schmieren deinen Bruder mit dem Zeug hier ein.«
24
» Tristram Hamilton Boye! Komm augenblicklich hierher!«
Laine riss die Augen auf.
» Wo ist dein Bruder?«, kreischte Mrs. Boye. Sie war in der Küche und schlug einen Kochtopfdeckel wie ein Zymbal. » Dein Vater wird bald hier sein, und der Carport ist nicht gefegt!«
Laine wälzte sich langsam aus dem Bett. Das geteilte Bett war eins der wenigen neuen Sachen im Haus – ein Zugeständnis an Bequemlichkeit, auf dem sie hartnäckig bestanden hatte, als die Aussicht darauf, zu Gavins Mutter zu ziehen, sechs Monate nach Mr. Boyes Krebstod immer wahrscheinlicher geworden war. Aber jetzt fühlte sich selbst das neue Bett besudelt an. Es war ein doppelt gefedertes Denkmal für Lügen, eine Petrischale der Verlogenheit, die sie mit ihrem treulosen Mann geteilt hatte und nun mit unheimlichen Träumen teilte, die vor dem Licht flohen, aber harte Kratzer und abgestorbene, schwarze Federn zurückließen. Laine versprach sich, dieses Haus, dieses Bett, ihre Kleidung, ihren Schmuck so schnell wie möglich loszuwerden – alles, außer dem Körper, in dem sie lebte. Sie würde sich sauber schrubben und zu einem neuen Leben aufbrechen, dessen erste und einzige Maxime lautete: Lass dich nie wieder belügen.
Sie setzte sich an den Bettrand und fragte sich, wie viel von dem – höchst merkwürdigen – gestrigen Abend sie nur geträumt hatte. Der beinahe lächerlich adrette junge Priester Pritam Anand. Der gehetzt wirkende, zornige und seltsam attraktive Nicholas Close. Der tote Vogel. Die Fotos. Eine Kurzwarenhandlung, die eine alte Frau geführt und in der sie beobachtet und Pläne gesponnen hatte …
Und wo nun eine hübsche junge Frau gesunde Lebensmittel verkaufte, rief sie sich in Erinnerung.
Mein toter Ehemann war Kunde bei ihr.
Für genau solche Zufälligkeiten hatte sie gestern Abend nur Hohn und Spott übriggehabt. Sie strich sich das Haar in den Nacken und ging, sich ihrer verrückten Schwiegermutter zu stellen.
Sie kümmerte sich um Mrs. Boye und steuerte sie von ihrer ziellosen Wut dazu, zu essen, zu baden, sich zu setzen, während Laine zum Telefon griff und eine immer kürzer werdende Liste potentieller Pfleger durchging, die bereit waren, bei Mrs. Boye zu wohnen. Sie vereinbarte zwei hoffnungsvolle Vorstellungsgespräche für den Nachmittag und fühlte sich danach befriedigt genug, um zu duschen, sich anzukleiden und in dem dunstigen Nieselregen zur Myrtle Street zu spazieren. Es war albern, es war kindisch, aber sie musste diese junge Frau mit eignen
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