Der Sog - Thriller
nicht auf einen Mann mittleren Alters vor ihm auf dem Gehsteig zu blicken, der unter einem Trommelfeuer von unsichtbaren Schlägen zu Boden fiel, sich wand und zuckte unter Tritten in seine Nieren, seine Leiste, gegen seinen Kopf. Das Gesicht des Manns war weiß und voller Angst, und es war eingedellt und blutüberströmt vom anhaltenden Bombardement ätherischer Stiefel mit Stahlspitzen. Seine Augen traten aus dem Kopf. Sein Kiefer brach. Seine Finger bogen sich, und ihre Knochen traten durch die Haut. Allmählich beendete er sein tonloses Wimmern, zuckte noch einmal kurz und rührte sich nicht mehr. Dann gab es einen lautlosen Schnitt in der Filmspule seines Sterbens, und er schwankte heil und erkennbar betrunken an der Bank vor Nicholas vorbei, in trockner Geisterkleidung trotz des strömenden Regens … und die grauenhafte Wiederholung seiner Ermordung begann von vorn.
Nicholas war zu erschöpft, um sich einen andern Platz zum Warten zu suchen. Es war inzwischen weit nach elf. Anderthalb Stunden lang war er in der Polizeistation fast durchgehend vernommen worden, nur kurz waren die Detectives dazwischen hinausgegangen. Vermutlich waren die Pausen dazu gedacht gewesen, dass er in Panik geriet und ein Geständnis in Erwägung zog. Stattdessen gaben sie ihm Zeit, aus ihren Fragen herauszufiltern, was mit Hannah Gerlics Schwester Miriam passiert war.
Detective Waller und ein männlicher Kollege von ihr hatten sich die Vernehmung aufgeteilt. Beide hatten eine Reihe wohl vorbereiteter Fragen gestellt. Manche hatten sie ein ums andere Mal wiederholt, andere hatten sie umformuliert und mit anderen vermischt. Wieder andere kamen aus heiterem Himmel, um ihn kalt zu erwischen. Nicholas’ Lieblingsfrage war gewesen: » Warum hat sie Ihre Zigaretten genommen?« Während er an der eiskalten Wand lehnte, dachte er darüber nach, wie schlau die Frage war und wie aufmerksam Waller seine Reaktion beobachtet hatte. » Ich habe das Mädchen nie gesehen«, hatte er wahrheitsgemäß geantwortet. Vermutlich hatte Waller darauf gehofft, dass er mit: » Ich rauche nicht«, antworten würde. Oder noch besser: » Keine Ahnung, aber die kleine Schlampe muss sie immer noch haben.«
» War Hannah Gerlic allein, als Sie sie aufgegabelt haben?«, hatte Waller gefragt.
» Ja.«
Nicholas nahm an, dass das ungewöhnlich war und die beiden Mädchen üblicherweise zusammen nach Hause gingen.
» Worüber hatten die Mädchen gestritten?«, fragte Waller.
» Hannah hat kein Wort mit mir geredet.«
Die Mädchen hatten also eine Auseinandersetzung gehabt. Das erklärte, warum sie getrennt waren.
» Hatte Miriam noch ihre Schuluniform an, als Sie Hannah zu Hause absetzten?«
» Ich habe Miriam nie gesehen.«
Miriam war von der Schule nach Hause gekommen, aber sie war irgendwann in der Nacht verschwunden.
» Sie sagen, Sie waren mit Laine Boye und Reverend Anand im Pfarrhaus. Bis wann?«
» Ich weiß nicht. Bis zehn etwa.«
» Sind Sie anschließend direkt nach Hause gefahren?«
» Ja.«
» Haben Sie irgendwo gehalten? An einem Laden, einer Tankstelle, Parkplatz?«
» Nein.«
Danach ließ man ihn eine Viertelstunde allein in dem Vernehmungszimmer, ehe Waller wieder hereinkam, freundlich, als würden sie sich gerade zum ersten Mal sehen.
» Sie können gehen, Sir. Auf der andern Straßenseite gibt es einen Taxistandplatz.«
Ohne dass er genau sagen konnte, wieso, hatte er sie gebeten, Laine Boye anzurufen.
Und so stand er nun an der Wand des Polizeigebäudes und versuchte, trocken zu bleiben. Er hob die Hand zum Nacken. Die Holzperlen fühlten sich warm an. Sein Rücken an der Wand war wie Eis.
Und schließlich traf Laine zu seiner Überraschung tatsächlich ein.
Die Reifen des Wagens zischten auf der Straße. Nicholas sank auf dem Beifahrersitz zusammen. Lange fuhren sie schweigend. Er sah Laine an. Ihre Augen waren so grau wie der Himmel.
» Wie geht es Ihnen?«, fragte er.
Laine warf einen Blick zu ihm hinüber. Darin blitzte etwas auf, das er nicht recht deuten konnte. War es Befangenheit?
» Wie meinen Sie das?«, erwiderte sie.
» Ich meine, wie geht es Ihnen?«
Der Verkehr an diesem regnerischen Tag ging im Stop and Go, und die Autos ruckelten voran wie Vieh zu einem Gatter. Laine antwortete nicht, deshalb sprach Nicholas weiter.
» Es gibt Nächte, da träume ich immer noch, dass Cate neben mir liegt. Und dann wache ich auf. Und in diesem Moment … wenn es mir wieder einfällt … dann fühle ich mich genauso wie
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