Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)

damit ich dich untersuchen kann«, wies der Heiler Arvan an.
    Wenig später lag Arvan in seinem Bett, das sich im Nachbarraum befand. Er hatte das Wams ausgezogen, und Orry löste vorsichtig den Blätterverband, den Zalea dem Menschenjungen angelegt hatte.
    Zalea, Borro und Neldo standen erwartungsvoll dabei, ebenso Brongelle und Gomlo. Sie alle hatten schon unzählige Male angstvoll und das Beste hoffend zugesehen, wenn Orry oder einer der anderen Heiler aus dem Stamm ihr Handwerk bei diesem Menschlingskind hatten anwenden müssen, das gleichzeitig so furchtbar verletzlich und auf der anderen Seite mit einer schier übernatürlichen Überlebensfähigkeit gesegnet war.
    Orry besah sich die Wunde und murmelte eine traditionelle Glücksformel, die von Worten aus der elbischen Sprache durchsetzt war. Die Halblinge hielten dabei allerdings an dem Dogma fest, dass diese elbischen Lehnwörter, die in allen möglichen Glücks- und Schadenszauberformeln enthalten waren, in Wahrheit aus einem sehr alten Halblings-Dialekt stammten.
    Orry hob erstaunt die buschigen Augenbrauen, denn die Wunde war fast nicht mehr zu sehen und glich nur noch einem Striemen, wie ihn ein Ast, an dem man sich ritzte, verursachen konnte.
    » Ich sagte doch, dass inzwischen wieder alles in Ordnung ist«, erklärte Arvan in einem Tonfall, als wäre dies die größte Selbstverständlichkeit unter dem Blätterdach der Wälder am Langen See.
    » Hast du in letzter Zeit mehr als üblich von der Magischen Essenz des Baumsaftes getrunken?«, fragte Orry stirnrunzelnd.
    » Nein, nur so viel, wie meine Mutter mir zuteilt«, beteuerte Arvan.
    Und Brongelle versicherte: » Ich halte mich strikt an Eure Empfehlungen, Orry.«
    Der Heiler schien nahezu fassungslos, er schüttelte den Kopf und rieb sich das Kinn. Dann griff er in seine Tasche und holte einen Kristall hervor, der zu den wichtigsten Arbeitsutensilien eines Halblingheilers gehörte. Der Kristall war vollkommen klar und in einer ganz bestimmten, nur von wenigen Handwerkern beherrschten Art und Weise geschliffen. Es handelte sich um einen Größerseher, den sich Orry ins Auge klemmte, bevor er sich wieder über Arvans Wunde beugte– oder besser über das, was davon übrig war–, um sie sich noch einmal ganz genau anzusehen.
    Als er sich schließlich wieder aufrichtete und sich den Größerseher aus dem Auge nahm, schien sich sein Erstaunen seinem Gesichtsausdruck nach noch vergrößert zu haben. » Es ist nun wirklich schon lange her, dass ich die Heilerprüfung als bester Prüfling meines Jahrgangs abgelegt habe, und die Zahl der Wunden, die ich mir seitdem ansehen musste, dürfte nicht mehr zu zählen sein. Aber so etwas habe ich wirklich noch nie erlebt!«
    » Nun, den Waldgöttern sei Dank verfügte unser Junge ja schon immer über eine gute innere Heilkraft«, meinte Brongelle.
    » Und die hat er auch stets reichlich in Anspruch genommen«, ergänzte Gomlo.
    » Trotzdem«, beharrte Orry. » Ich behandle Euren Sohn nun schon, seit er ein Kleinkind war und auf seinen viel zu kleinen Füßen zu stehen versuchte. Doch etwas Vergleichbares habe ich selbst bei ihm noch nicht gesehen!«
    » Dann scheint sich meine innere Heilkraft ja gut entwickelt zu haben«, äußerte Arvan leichthin. » Das ist doch gut, findet Ihr nicht, Heilmeister Orry?«
    » Ich bin mir nicht sicher«, sagte Orry. » Ja und nein.«
    » Was soll das heißen, ja und nein?«, wollte Zalea wissen.
    » Es scheint, als würde jedes Unglück, das ihm widerfährt, und jede Verletzung, die er sich zuzieht, die ihm innewohnende Kraft zur Heilung fördern und stärken. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, sondern geschieht nach der Lehre der Halblingheiler bei jedem Geschöpf. Allerdings nicht so ausgeprägt wie bei Arvan.«
    » Umso besser«, mischte sich Borro ein. » Dann braucht er sich trotz seines Ungeschicks auch in Zukunft keine Sorgen zu machen. Und wir auch nicht.«
    Neldo verpasste ihm einen Rippenstoß. Borro sollte ausnahmsweise mal den Mund halten und abwarten, was der Heilmeister noch zu sagen hatte.
    » Die Wunde ist fast vollständig verheilt. Es wird auch keine Narbe bleiben, obwohl man die bei einem Dolchstich eigentlich erwarten dürfte.«
    » Fast wie bei einem Elb!« Borro konnte sich erneut nicht beherrschen.
    Orry wandte sich zu dem vorlauten Halbling um und nickte. » Daran habe ich auch schon denken müssen. Aber Arvan ist kein Elb, dem vielleicht ein missgünstiger Blättergeist die erhabenen spitzen Ohren zu