Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)
kleinen Menschlingslöffeln verkümmern ließ. Er ist ein Mensch, daran besteht kein Zweifel.«
Wenn jemand das sicher beurteilen konnte, dann Orry, denn er wurde auch dann gerufen, wenn Söldnertruppen des Waldkönigs in der Nähe waren und seiner Kunst bedurften. Er hatte während seiner Heilertätigkeit zwar nicht ganz so viele Menschen wie Halblinge behandelt, doch sicherlich genug, um die charakteristischen körperlichen Merkmale genau zu erkennen, auch wenn es hin und wieder kleinwüchsige Menschen mit großen Füßen und Halblinge gab, die durch irgendein Unglück ihre spitzen Ohren verloren hatten.
» Wie auch immer, ich kann dann ja wohl wieder aufstehen und selbst nach den Baumschafen sehen«, meinte Arvan und wollte sich bereits von seinem Lager erheben.
Doch Orry drückte ihn zurück aufs Bett. » Einen Moment noch, junger Menschling-Freund.«
» Was ist denn noch? Ich bin geheilt, auch wenn Eure Kunst daran in diesem speziellen Fall keinen großen Anteil gehabt haben mag…«
» Darum geht es nicht«, schnitt ihm Orry das Wort ab. Er kramte in seiner Heilertasche herum, ließ zunächst den Größerseher darin verschwinden und holte dann einen vollkommen glatten Stein hervor. Er war schwarz wie die Nacht, und auch jemand, der kein Heiler war, wusste, wozu er benutzt wurde.
Arvan runzelte die Stirn. » Ihr wollt mich auf eine magische Beeinflussung hin prüfen?«
» Das wäre immerhin eine Erklärung für das eigentlich Unerklärbare«, meinte Orry.
Und ehe sichs Arvan versah, fuhr der Heiler mit dem schwarzen Stein, den er zwischen Daumen und Zeigefinger seiner geschickten Halblingshand hielt, über den Körper des jungen Menschlings, ohne ihn dabei zu berühren. Von der Stelle, an welcher der Dolch des erschlagenen Söldners in ihn gefahren war, fuhr er aufwärts bis zum Herzen, dann ließ Orry den Stein über Arvans Stirn ruhen.
Ein winziger Funke aus schwarzem Licht sprang aus dem Stein auf Arvan über.
Der Heiler zog den Stein daraufhin zurück. Er sagte kein Wort, doch die Furche, die sich auf seiner Stirn gebildet hatte, wurde tiefer und länger. Die Blicke aller ruhten zunächst auf Arvan, dann richteten sie sich erwartungsvoll auf Orry.
» Es ist Magie im Spiel«, sagte der Heiler. » Aber diese Magie muss bereits vor sehr langer Zeit angewendet worden sein.«
» Wann kann das gewesen sein?«, fragte Brongelle sichtlich erregt. » Er war doch immer in unserer Obhut!«
» Zweifellos vor der Zeit, da er hier auf diesem Baum eine Heimat fand«, war Orry überzeugt. » Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Zauber, der sich nur so schwach zeigt, noch immer eine derart große Wirkung hat und etwas mit Arvans außergewöhnlich guter Wundheilung zu tun haben könnte.«
» Freuen wir uns einfach darüber, dass unser Sohn gesund ist«, meinte Gomlo. » Das handhaben wir so, seit er bei uns ist, statt uns zu fragen, wie dieses oder jenes möglich ist. Das haben wir längst aufgegeben.«
» Ich als Heiler, werter Gomlo, muss mir derlei Fragen stellen, damit ich Eurem Sohn helfen kann, wenn seine Selbstheilungskräfte einmal versagen«, erklärte Orry. » Bedenkt, er ist nicht unsterblich, wie meine Tochter eben feststellte.«
Arvan setzte sich erneut auf und griff nach seinem Wams, aber Brongelle nahm es ihm aus der Hand. » Das muss ich erst flicken«, sagte sie.
Auf Gomlos Geheiß hin gab der Baumflöter die Nachricht vom Einfall der Orks an die anderen Wohnbäume weiter. Er benutzte dafür eine besondere Flöte, deren sehr weit hörbare Töne ein unwissender Fremder für Vogelgezwitscher halten konnte, wie es im Wald tagsüber allgegenwärtig war. Andere Baumflöter nahmen die Nachricht auf und verbreiteten sie innerhalb kürzester Zeit bis zu den nördlichsten Stämmen in der Dichtwaldmark.
Kein Halbling verließ sich beim Auftauchen der Orks auf den unzureichenden Schutz der Haraban-Söldner, die für alle Waldbewohner ohnehin kaum mehr als Verachtung übrig hatten. Dieses Schicksal teilten die Halblinge durchaus mit anderen Geschöpfen, die in den Wäldern am Langen See beheimatet waren.
Vorbereitet zu sein war nach Gomlos Überzeugung die wichtigste Voraussetzung, um der ungezügelten Gewalt begegnen zu können, die immer wieder über das Halblingvolk hereinbrach.
Dunkle Aussichten
Schon am nächsten Tag machte sich Arvan wieder zu seinem Herdenbaum auf. Allerdings war er diesmal nicht allein. Neldo begleitete ihn– und er hatte nicht nur seine Schleuder, sondern auch
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