Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)
bevor er zu Boden sinken konnte.
» Dieser Schuss galt sicher… Euch, Lirandil«, kam es über Arvans Lippen, die bereits bleich geworden waren, während sich alles um ihn zu drehen begann und ihm die Sinne schwanden.
Dann umgab ihn tiefe Dunkelheit.
Träume, Erwachen und Tod
Arvan hatte das Gefühl, nie zuvor in seinem Leben so tief geschlafen zu haben, und er war überzeugt davon, dass er nie wieder die Augen öffnen würde. Nach all den Stürzen, die er wider Erwarten überlebt hatte, und all den Wunden und Verletzungen, die bei ihm entgegen aller Lehren der Heiler doch verheilt waren, hatte Gomlo ihn manchmal schon gewarnt: » Du bist nicht unsterblich, auch wenn dich deine robuste Natur, mit der du gesegnet bist, dies vielleicht glauben macht.« Tatsächlich hatte sich Arvan manchmal gefragt, wo wohl die Grenzen seiner offenbar angeborenen Heilkraft liegen mochten. Bei all dem vielen Unglück, das ihm widerfuhr, kam er zum Erstaunen aller stets mit dem Leben davon.
Bis heute, dachte er. Obwohl er sich nicht sicher war, ob » heute« wirklich die richtige Bezeichnung war, denn er hatte vollkommen den Bezug zur Zeit verloren. Vielleicht lag er schon seit einem Jahr in einem Sarg und moderte vor sich hin. Unter den Stämmen der Halblinge am Langen See war die Bestattung in Särgen üblich, deren Holz zudem mit Tinkturen behandelt wurde, die das Gewürm fernhielten, denn von Würmern und Aasschnecken zerfressen zu werden war eine Vorstellung, bei der es jedem Halbling grauste. Glücklicherweise kannte ihr Volk ein paar sehr wirkungsvolle Rezepturen, die sich bestens bewährt hatten und darüber hinaus für Halblinge und auch Menschen völlig ungefährlich waren.
Früher, als die Halblinge noch auf dem und im Boden gelebt hatten, hatte man die in die Erde gebauten Häuser auf diese Weise ebenfalls vor dem gefräßigen Leben im Boden geschützt. Deshalb wurden Erdhäuser auch » Särge« genannt, und so kehrten die Bewohner der Wälder am Langen See am Ende ihres Lebens dorthin zurück, wo ihre Ahnen einst gelebt hatten.
Irgendwann musste es ja so kommen, dachte Arvan. Dass er noch denken konnte, wunderte ihn nicht sonderlich, denn es gehörte zum Glauben der Halblinge, dass die Verstorbenen durch Träume ins Jenseits gelangten. In diesen Träumen wurde ihnen das vergangene Leben noch einmal vor Augen geführt, sodass sie auch zu Albträumen der Schuld werden konnten oder der verpassten Gelegenheiten und falschen Entscheidungen.
Arvan konnte sich dunkel an wirre Träume erinnern. Träume, die ihn gequält und ein tiefes Unbehagen hinterlassen hatten. Er war den Waldgöttern gegenüber niemals besonders ehrfürchtig gewesen, genauso wie anderen Mächten gegenüber, die sich nicht durch die Vernunft erklären ließen, und über das Jenseits hatte er sich bislang kaum Gedanken gemacht. Er hatte stets vollauf damit zu tun gehabt, tödliche Verletzungen zu vermeiden und im Wald am Langen See trotz seiner unbestreitbaren Ungeschicklichkeit am Leben zu bleiben. Seine ganze Kraft hatte er darauf verwendet, das zu tun, was allen anderen von Natur aus um so vieles leichter fiel, vom Klettern bis zum Schreiben verschnörkelter Buchstaben in Elben- oder Halblingsschrift. Für weitergehende Gedanken hatte seine Energie einfach nicht gereicht.
Ein bisschen spät, sich jetzt noch den grundlegenden Fragen des Lebens zu stellen, wo es doch offenbar gerade vorbei ist, dachte er.
Die Träume, die ihn heimgesucht hatten, waren in seiner Erinnerung ein wirres Durcheinander aus Bildern, ganzen Szenen und Begebenheiten, von denen er nicht wusste, ob er sich an sie erinnerte, sie herbeiwünschte oder vielleicht einfach nur fürchtete. Er entsann sich einer Stadt mit Türmen und einem Hafen. Er hatte unzählige Schiffe gesehen und einen weiten Himmel über einer blau schimmernden Wasserfläche, die kein Ende zu haben schien.
Den Langen See nannte man aufgrund seiner Größe mitunter auch das Valdanische Meer. Das gegenüberliegende Ufer konnte man nur sehen, wenn man bereits mindestens eine Stunde in westlicher Richtung gesegelt war; dann erschien es als grünes Band am Horizont. Arvan hatte dreimal an einer solchen Fahrt teilgenommen. Rabblo, ein Neffe von Baum-Meister Gomlo, hatte ihn mitgenommen; er war Fischer und hatte ein seetüchtiges Boot, mit dem er regelmäßig hinausfuhr. Viele der wirklich schmackhaften Fische fand man nur in der Seemitte, weitab vom Ufer, von wo die zahlreichen Krokodile sie fernhielten.
Nein, in
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