Der Sohn des Apothekers (German Edition)
als die
Ermittlungen eingestellt wurden, gab es keinen Grund mehr, sie wollten nicht
unnötig Aufsehen erregen. Erst als diese junge Frau vor ein paar Wochen bei
Flensburg auftauchte, wurde der Fall wieder neu aufgerollt und er rückte
natürlich auch wieder in den Fokus der Presse. Für mich gibt es keine Zweifel,
dass die Täter aus dem Dorf stammen und Sven gut kennen. Doch jetzt stehen auch
sie vor einer neuen Situation, denn die Ermittlungen führt das LKA. Ich muss
unbedingt mit Ihrem Sohn sprechen, es liegt auch in seinem Interesse. Und es
ist mir egal, was seine Betreuerin davon hält. Aber dafür brauche ich Ihr
Einverständnis.«
Thiele legte den Kopf zurück und fuhr sich mit der Hand über
das Gesicht. Schließlich seufzte er. »Es mag Ihnen komisch erscheinen, aber ich
will nur das Beste für meinen Jungen. Ihre Kollegen damals haben so vieles in
ihm kaputtgemacht. Sie müssen mich verstehen. Ich will ihn doch nur schützen.«
»Das weiß ich, aber ich glaube, die einzige Möglichkeit, ihm
wirklich zu helfen, ist ein Gespräch mit uns«, antwortete Trevisan.
Thiele sank in sich zusammen. Eine ganze Weile saß er auf
seinem Stuhl. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. »Wenn ich nur wüsste, was
richtig ist! Ich bin hin und her gerissen.«
»Woher rühren Ihre Zweifel?«, fragte Trevisan. »Das kann doch nicht
nur alleine an dem Versagen unserer Kollegen liegen?«
»Wissen Sie, die meiste Zeit hat sich damals meine Frau um ihn
gekümmert. Es war schwierig, ihn alleine rauszulassen, er brauchte anfänglich
immer jemanden um sich. Ich musste arbeiten und Sie können mir glauben, ich
habe keinen Achtstundentag. Manchmal bin ich bis zu vierzehn Stunden in der
Apotheke. Wir brauchten das Geld für Svens Behandlung. Wir haben damals alles
versucht. Therapie folgte auf Therapie, Sven ist sogar in Los Angeles mit
Delfinen geschwommen. Aber das alles hat seinen Zustand nicht entscheidend
verbessert.«
»Ich kann verstehen, dass es nicht leicht für Sie war«,
antwortete Trevisan.
Rudolf Thiele kratzte sich am Kinn. »Es kam noch schlimmer:
Dann wurde auch noch Angelika, meine Frau schwer krank. Wir suchten jemanden,
der Sven betreut, denn er fand Gefallen daran, alleine durch den Wald zu
stromern. Wissen Sie, er ist manchmal wie ein kleines Kind. Er ist neugierig,
aber er hat eben kein Gespür für die Gefahr. Einmal ist er ausgerissen und erst
am nächsten Tag wieder aufgetaucht. Ich habe ihn gesucht und ich sah ihn im
Geiste schon tot vor mir liegen. Das war schrecklich. Als meine Frau
bettlägerig wurde, haben wir eine Pflegerin engagiert, aber das hat Sven nicht
gefallen und er hat abgeblockt. Er ist ausgerissen, immer wieder ausgerissen,
wir mussten die Frau wieder entlassen. Es war eine Fügung des Schicksals, dass
Sarah im Dorf lebte. Sie hatte einen Draht zu ihm. Ich fragte sie, ob sie sich
um Sven kümmert, und er war begeistert. Sie war im ähnlichen Alter, aber wir
hatten keine andere Wahl. Ich wusste, dass es schwierig ist, einem so jungen
Mädchen die Verantwortung für meinen Sohn zu übertragen, aber was sollte ich
tun? Diese Rabauken, dieser Kevin, der Sohn unseres Polizisten und der junge
Rosenberg – sein Vater ist Arzt – haben ihn immer nur gehänselt und
herumgeschubst, aber Sarah hatte ihn gern und er natürlich auch Sarah. Sie ist
auch mit den Kerlen fertig geworden. Wir haben sie natürlich bezahlt, das war
doch klar, aber ich glaube, sie hat es wirklich gern getan, das spürte man.«
»Sarah?«
»Sarah Meierling, ihre Mutter lebt in Tennweide und ist
alleinstehend.«
Trevisan nickte. »Ich kenne Frau Meierling. – Können Sie sich
noch erinnern, was an dem Tag vorgefallen ist, als die Mädchen entführt
wurden?«
Thiele nickte. »So, als wenn es gestern gewesen wäre«,
antwortete er. »Ich war auf einem Kongress in Hamburg und kam erst spät zurück,
meine Frau war bettlägerig erkrankt. Sarah hatte Sven nach der Schule abgeholt,
er ging auf die Betreuungsschule in Neustadt. Sie sind spazieren gegangen und
waren in der Nähe des Grubhofs. Ausgerechnet an diesem Tag erzählte sie ihm,
dass sie sich in einer Hotelfachschule in Hamburg beworben hat und weggehen
wird. Das hat Sven offenbar so erschüttert, dass er ausgerissen ist. Sarah hat
mich gegen sechs auf meinem Handy angerufen und ich bin sofort zurückgefahren,
um ihn zu suchen. Sven war in einer solchen Ausnahmesituation unberechenbar.
Einmal ist er durch den Wald bis nach Nienburg gelaufen. Dort hat man
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