Der Sohn des Donnergottes
gar nicht wünschen. Sampsa fragte, warum Rutja ausgerechnet eine derartig schwierige Methode gewählt hatte, um auf die Erde zu kommen. Der Körpertausch hatte Kraft gekostet, hätte es da kein leichteres Mittel gegeben?
Rutja erzählte, daß im Himmel durchaus über eine Alternative nachgedacht worden war. Er wäre dann einer Frau als Fötus in die Gebärmutter gesetzt worden, in einer Art Schnellbefruchtung, wie sie schon manches Mal unter den finnischen Völkern betrieben worden ist. Aber die Methode, übrigens dieselbe, deren man sich seinerzeit bei Jesus bedient hatte, war immer noch äußerst langwierig.
»War dieser Jesus nicht zuerst auch in so eine Hirtenfamilie hineingeboren worden und dann wie ein gewöhnlicher Junge aufgewachsen? Erst mit dreißig oder so kam er dazu, seine eigentliche Aufgabe in Angriff zu nehmen. Mir ist das viel zu langsam und außerdem zu gefährlich. Vielleicht wäre ich bei der Geburt gestorben oder in der Grundschule krank geworden. Glaube mir, dieses System hier ist besser. Was ich mich aber frage, ist, warum um Himmels willen dieser christliche Gott seinen eigenen Sohn geopfert hat? Schließlich ist Jesus damals ja gekreuzigt worden.«
Sampsa erklärte ihm, daß es sich dabei um eine Sündenvergebung gehandelt hatte. Daß sich Jesus für die Menschen opferte, als man ihn umbrachte. Er nahm die Sünden der ganzen Welt auf sich.
Rutja dachte nach. Offensichtlich konnte er so einem Opfer nicht sonderlich viel abgewinnen.
»Ich habe den Eindruck, daß Jesus nicht das beste Verhältnis zu seinem Vater hatte. Wenn es mir so erginge, also wenn ich hingerichtet werden sollte, würde Ukko Obergott mich bestimmt nicht umbringen lassen. Er würde meinetwegen mit einem Blitz das Kreuz in Brand setzen, wenn sonst nichts hilft. Na ja, aber was geht mich diese alte Geschichte an. Kann ja auch sein, daß dieser Jesus ein Schutzgeist mit derart herausragendem Charakter war, daß er sich gerne opferte. Wie soll man das wissen bei fremden Göttern. Ich finde jedenfalls, er war ein komischer Typ.«
Müde von der Geburt lagen Rutja und Sampsa den ganzen Nachmittag auf dem Opferstein herum. Sie unterhielten sich über die verschiedensten Dinge. Sampsa erzählte, wer der finnische Präsident war, wie sich die außenpolitische Situation darstellte, er sprach vom Erwerbsleben, vom Verhältnis zwischen Männern und Frauen, von der Bevölkerungszahl, von all den Dingen, über die Rutja entweder keine oder nur hoffnungslos veraltete Informationen besaß. Sie vereinbarten auch, daß Sampsa Rutja seine Buchhaltung übergab, außerdem das Auto, das Antiquitätengeschäft und die Hausschlüssel. Außerdem würde er ihm anfangs auch sonst auf jede nur erdenkliche Weise behilflich sein.
»Die Finnen sind ein einfaches Volk, du wirst mit ihnen schon zurechtkommen«, meinte Sampsa.
In der Nacht schlichen Rutja und Sampsa durch den Wald zum Ronkaila-Hof. Den hölzernen Fischgott ließen sie im nächtlichen Nebel auf dem Fels zurück, nachdem sie versprochen hatten, dem Kameraden hin und wieder einen Besuch abzustatten. Über das Gesicht der Kultfigur huschte nun wieder dasselbe Grinsen wie früher.
Auf dem Hof angelangt, betrachtete Rutja kritisch sein neues Zuhause. Besonders das alte Gebäude schien ihm in äußerst schlechtem Zustand zu sein. Er machte Sampsa darauf aufmerksam, daß man das Haus den Anforderungen der Gegenwart entsprechend renovieren müsse, zumal von nun an ein Gott darin wohnen würde, der Sohn des Donnergottes höchstselbst. Sampsa bedauerte, aufgrund fehlender finanzieller Mittel den Hof nicht in ausreichend gutem Zustand gehalten zu haben. Wenn er gewußt hätte, daß irgendwann einmal ein Gott einziehen würde, hätte er natürlich mit aller Macht versucht, alles in Ordnung zu bringen, aber wer konnte so etwas schon im voraus ahnen? Ein Haus lebt auf seine Art, ein Gott kommt zu seiner Zeit.
Die Männer kamen am Brunnen vorbei. Rutja bat Sampsa, ihm ein wenig Wasser hochzuholen.
»Ich habe immer noch Durst von meinem Ritt auf dem Blitz. Und diese Geburt hat auch an den Kräften gezehrt«, sagte der Sohn des Donnergottes.
Sampsa holte einen Eimer klares, frisches Wasser aus dem Brunnen. Der durstige Gott schlürfte gierig, wischte sich dann den Mund ab und meinte zufrieden:
»So also schmeckt Erdenwasser. Zuletzt habe ich aus dem Totenfluß getrunken. Dort ist das Wasser eher schwarz und im Vergleich zu diesem hier ziemlich bitter.«
Die Männer begaben sich in das alte Haus
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