Der Sohn des Donnergottes
daß dieses Kerlchen selbst eine Behandlung nötig hatte. Mälkynens Bericht zufolge hatte Osmola früher als Stationsarzt in der geschlossenen Abteilung der Nervenheilanstalt Nikkilä gearbeitet. Er hatte die Aufgabe sehr persönlich genommen und die seelisch belastende und verrückte Atmosphäre seines Arbeitsplatzes nicht so recht verkraftet. Also hatte er seine Stelle aufgegeben und die bescheidene Praxis in der Liisankatu eröffnet. Mittlerweile hatte sich Psychiater Osmola auf die Behandlung hysterischer Frauen spezialisiert. Eine analytische Ausbildung besaß er nicht, wußte aber das ein oder andere über Psychoanalyse. Daß ihm die entsprechende Ausbildung fehlte, hatte vor allem damit zu tun, daß seine geistige Struktur das mühsame Auseinandernehmen der Psyche nicht ausgehalten hätte. Außerdem wollte er nicht schon während des Studiums verrückt werden. Schon immer hatte sich in seiner Persönlichkeit eine gewisse Instabilität gezeigt, und durch die Arbeit mit den Patienten wurde sie nicht unbedingt gemindert.
Aber trotz allem schien dieser Onni Osmola ein prima Kerl zu sein. Rutja beschloß, ihn als Oberarzt für seine Einrichtung zu akzeptieren.
»Aha, der Herr Ronkainen. Erzählen Sie einfach ganz offen, was Sie auf dem Herzen haben! Ich bemühe mich zuzuhören, und dann wollen wir mal sehen, was wir tun können«, sagte Onni Osmola aufmunternd.
Rutja begann. Er erzählte, daß er der Sohn des Donnergottes sei, vor einiger Zeit, beflügelt von einem Blitz, aus dem Himmel auf die Erde gelangt sei, die Rolle mit einem Antiquitätenhändler – Sampsa Ronkainen – getauscht habe und seitdem in dessen Gestalt auftrete. Rutja erklärte, seine Aufgabe sei es, herauszufinden, warum die Finnen nicht mehr an die Götter ihrer Vorfahren glaubten. Das meinte er mittlerweile zu wissen. Die Finnen waren Gewohnheitschristen, und außerdem ging es ihnen viel zu gut. Im Grunde glaubten sie an gar nichts, auch wenn die Mehrheit des Volkes offiziell der lutherischen Kirche angehörte.
Die zweite und schwierigere Aufgabe bestand darin, die Finnen wieder zu ihrem alten Glauben zu bekehren. Deshalb war er, Rutja Ronkainen, nun gekommen, um sich mit einem Psychiater zu beraten.
»Hochinteressant. Wann genau fing das an, daß Sie das Gefühl hatten, Sie seien… der Sohn des Donnergottes? Ist das schon viele Jahre her, oder geschah das erst diesen Sommer?«
Zerstreut machte sich Onni Osmola Notizen. Das war wieder mal so ein typischer Fall. Der Mann war am ehesten noch deswegen interessant, weil er nicht behauptete, zum Beispiel Napoleon zu sein, wie viele seinesgleichen, sondern sich gleich als Gott versuchte, und auch noch als altertümlicher finnischer Gott. Das deutete auf eine gewisse Intelligenz des Patienten hin. Erst zwei Wochen zuvor hatte Psychiater Osmola mit einer Person gesprochen, die behauptete, Stalin zu sein.
Nun handelte es sich also um Rutja, den Sohn des Donnergottes höchst persönlich. Onni Osmola dachte an seine Studienzeit zurück. Dunkel erinnerte er sich an Bruchstücke aus der finnischen Mythologie.
Wahrscheinlich war der Gott namens Rutja in Finnlands heidnischer Zeit sehr bekannt, vermutete Osmola. Wenn der Besitzer eines Antiquitätengeschäfts durchdreht, sucht er sich als neues Über-Ich natürlich jemanden aus, mit dem ihn etwas verbindet. Ein delirierender Feldwebel identifiziert sich mit Marschall Mannerheim, ein verwirrter Kantor glaubt, Sibelius oder Bach zu sein. Insofern war Sohn des Donnergottes eine absolut logische Wahl, falls bei diesen Dingen überhaupt jemals Logik eine Rolle spielte. Onni Osmola selbst hätte sich gerne mit Freud identifiziert, hätte er sein eigenes Ich vergessen und sich ein besseres suchen wollen.
Rutja behauptete, schon immer gewußt zu haben, daß er der Sohn des Donnergottes war, und er begriff nicht recht, weshalb ihn der Arzt so einen Blödsinn fragte. Hielt Osmola ihn etwa für einen Patienten? Hatte Notar Mälkynen nicht erzählt, welches Anliegen Rutja hierherführte?
»Doch, Mälkynen hat mich vorbereitet. Aber fahren Sie fort! Belastet Sie dieses Empfinden? Ich meine, ist Ihnen diese Zwangsvorstellung peinlich? Sie können bestimmt mit niemandem darüber reden. Sie sind gewissermaßen allein mit Ihrer Göttlichkeit, oder? So etwas kann sich mit der Zeit zu einer schweren seelischen Belastung entwickeln. Erst neulich traf ich hier einen gewissen Stalin, der darüber klagte, sich nicht zu trauen, irgend jemandem seine Identität zu
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