Der Sohn des Haeuptlings
Fräulein Kowalski“, meinte der Schuldirektor, blätterte die Zeitung um und nahm einen Zug aus seinem schmalen Zigarillo. Vor fünf Minuten hatte der Unterricht im Prinz-Ludwig-Gymnasium begonnen. Das war der Augenblick, da er sich jedesmal eine Pause gönnte, bevor er sich in den täglichen Papierkrieg stürzte.
„Ich bin eine Viertelstunde lang für niemanden zu sprechen“, betonte er, noch bevor Fräulein Kowalski die Tür zu ihrem Vorzimmer hinter sich schloß.
Aber bereits eine Minute später klingelte das Telefon.
„Ich habe doch gesagt, daß ich meine Ruhe haben will“, knurrte der Oberstudiendirektor Senftleben in den Hörer. Kurz danach sagte er dann allerdings: „Na, wenn das so ist, dann lasse ich bitten.“
Er stand aus seinem Schreibtischsessel auf und öffnete persönlich die Tür. „Sie sind Amerikaner, wie ich höre“, sagte Herr Senftleben in einwandfreiem Englisch. „Ihr Name ist Webster, wenn ich richtig verstanden habe?“
„Und das ist Tesu, der Sohn des Apachenhäuptlings Kuguah. Vor einer Woche waren wir noch in Chicago, und vor drei Wochen noch in South Dakota —“
Mister Webster erzählte ein wenig von sich, und weshalb er nach Berlin gekommen wäre. Währenddessen wanderte der Schuldirektor beim Zuhören durch sein Zimmer, entdeckte auf der Straße die parkende Limousine mit der amerikanischen Standarte und konnte sich an den Fingern abzählen, daß sein Besucher eine ziemlich bedeutende Persönlichkeit sein mußte. Jedenfalls bedeutungsvoller, als es der Amerikaner im Augenblick zugab.
„Wäre es also möglich, daß Tesu beim Unterricht dabeisein kann?“ fragte Mister Webster schließlich.
„Das ist nicht nur möglich“, erwiderte Oberstudiendirektor Senftleben, „das macht uns sogar Freude und direkt ein wenig stolz.“
„Wenn ich dann einen Besuch in der Klasse 8 B vorschlagen darf“, meinte Mister Webster, „wir haben da schon ein paar neue Freunde gefunden.“
„Die Glorreichen Sieben, wenn ich richtig vermute“, fragte der Schuldirektor und schmunzelte. „Wir müssen uns aber gleich auf die Socken machen, wenn wir nicht zu spät kommen wollen. Am letzten Tag vor den Osterferien stehen nämlich meistens nur noch Sport, Musik oder Zeichnen auf dem Stundenplan. Beliebte Fächer, um den Schülern den Übergang zum Urlaub zu erleichtern.“
Sie platzten kurz darauf mitten in eine Deutschstunde hinein. Oberstudiendirektor Senftleben winkte ab, als die Klasse aufstand. „Guten Morgen, 8B“, sagte er und wandte sich dann zu Studienrat Purzer. „Entschuldigen Sie, Herr Kollege, wenn wir stören. Darf ich Ihnen und der Klasse Mister Webster vorstellen und diesen jungen Mann, den er mitgebracht hat —“
Als die Klasse erfuhr, daß Tesu ein echter Indianer war und dazu noch der Sohn eines Häuptlings, scharrten sie beifällig mit den Schuhsohlen.
„Es stört euch hoffentlich nicht, wenn unsere Gäste eine Weile zuhören“, schloß Oberstudiendirektor Senftleben seine kurze Ansprache.
„Im Gegenteil“, versicherte Emil Langhans als Klassensprecher. „Uns ist jede Unterbrechung eines Unterrichts ausgesprochen angenehm. Wir fühlen uns da mit allen Schülern der Welt solidarisch.“
Mister Webster, der den Sinn des Satzes begriffen hatte, schmunzelte, und der Schuldirektor meinte: „Nicht schlecht gebrüllt, Löwe.“
„Neben mir ist ein Platz frei“, sagte Karlchen Kubatz.
„Bitte“, meinte Studienrat Dr. Purzer, streckte seinen rechten Arm aus und forderte Tesu auf, Platz zu nehmen.
„Ich würde ja auch ganz gerne zuhören“, meinte Mister Webster. „Aber ich fürchte, wenn ich mich jetzt in eine von euren Bänken klemme, muß hinterher der Tischler kommen und mich wieder heraussägen.“
„Wir haben zwei Stühle anzubieten“, schlug Studienrat Dr. Purzer vor. „Meinen hier hinter dem Katheder und einen zweiten neben dem Kartenschrank. Wenn Sie also bleiben wollen, Mister Webster, und Sie, Herr Oberstudiendirektor, gleichfalls?“
Die beiden Herren sahen sich an, nickten und saßen kurz darauf nebeneinander seitlich von der Tafel auf dem Podium.
„Ich schlage vor, daß wir für unsere amerikanischen Gäste eine Art Potpourri veranstalten“, meinte Studienrat Dr. Purzer. „Damit sie in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, einen möglichst umfangreichen Eindruck bekommen. Zuerst weiter in unserer Deutschstunde. Wie war das mit dem Satz, den wir gerade am Wickel hatten?“
Hans Pigge stand auf und las vor: „— wir
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