Der Sohn des Kreuzfahrers
bereits über ihm waren. Die Leibgarde des Sultans hielt lange genug stand, um ihrem Herrn die Flucht zu ermöglichen; dann flohen auch sie und ließen Zelte, Pferde und alle Schätze des Sultans zurück.
Du mußt wissen, daß die Türken ein Wandervolk sind. Sie vertrauen keinen Palästen oder Städten. Das ist ihre Art, und so haben wir unsere Beute bekommen: Wir haben sie davongejagt und ihnen alles abgenommen. Gott im Himmel, der Sultan besaß wirklich einen großen Schatz, und wir haben ihm alles, alles abgenommen.«
Ranulf begann erneut zu husten. Murdo schaute hilflos zu, wie Krämpfe den ausgelaugten Körper seines Vaters schüttelten. Ranulf hielt inne und legte die Fingerspitze auf die Lippen. Murdo griff erneut nach dem Wasserschlauch und gab seinem Vater zu trinken. »Ruh dich jetzt ein wenig aus«, schlug er vor. »Ich werde bei dir bleiben. Wir können später weiterreden.«
Aber Ranulf schien ihn nicht zu hören. »Der Schatz ist riesig«, fuhr er mit trockener, hohler Stimme fort. »Gold und Silber jenseits aller Vorstellungskraft. Balduin nimmt ihn sofort an sich. Die Schlacht ist vorbei. Ich schaue mich um. Die Schreie hallen noch immer in meinen Ohren wider. Ich kann nichts hören außer dem
Kriegslärm in meinem Kopf. Ich stolpere aufs Schlachtfeld hinaus.
Die Toten ... die Toten. Heiliger Herr Jesus, hier sind mehr Tote als Lebende. Ich kann nirgends hingehen, ohne nicht über Leichen zu stolpern. Ritter und Fußvolk. Frauen und Kinder - die Körper zerfetzt, Blut und Innereien in den Dreck getrampelt. Leichen ohne Kopf und Glieder. Ich sehe einen aufgeschlitzten Priester und ein Baby mit Hufspuren auf dem Rücken.«
»Vater, bitte«, flehte Murdo.
»Siebzigtausend!« schrie Ranulf und rappelte sich wieder auf. »Siebzigtausend an einem einzigen Tag! Das ist es, was sie gesagt haben. Zähl dazu die Frauen, Kinder, Priester und alten Männer - wer weiß, wie viele mehr? Siebzigtausend Ritter und Fußvolk sind in Dory-laion in den Tod gegangen. Mehr als zwanzigtausend sind verwundet worden, und von diesen haben sich viele nur noch ein paar Tage lang gequält, bevor auch sie gestorben sind.
Ich suchte nach Brusi und seinen Söhnen«, sagte er und ließ sich wieder zurückfallen. »Ich suchte die ganze Nacht über, aber ich habe sie nie wiedergesehen. Sie sind in Dorylaion mit all den anderen gestorben . mit all den anderen. Ich habe sie nie gefunden.«
Die Luft im Zelt war stickig, und Murdo wünschte sich etwas frische Luft, doch er wagte nicht, seinen Vater jetzt zu verlassen. »Ruh dich nun etwas aus«, sagte er, »damit du bald wieder zu Kräften kommst.«
»Nein, mein Sohn.« Ranulf schüttelte langsam den Kopf. »Ich sterbe.«
Murdo blinzelte in dem Bemühen, die Tränen zurückzuhalten. »Vater, ich.«, begann er, doch er konnte nicht weitersprechen, sonst hätte er tatsächlich angefangen zu weinen.
»Nein, nein«, beruhigte ihn Ranulf. »Ich bin mit allem fertig und bereit. Geh zu deiner Mutter. Sag ihr, wie ich gestorben bin.«
»Natürlich«, antwortete Murdo. »Ich werde es ihr sagen.«
»Welch eine Verschwendung! Eine Verschwendung!« krächzte Ranulf plötzlich und regte sich wieder auf. »Hochmütige Narren! Wir haben den Preis für unsere Dummheit bezahlt, bei Gott! Wir haben mit unserem Leben bezahlt!«
»Jetzt ist es vorbei«, sagte Murdo und versuchte wieder, seinen Vater zu beruhigen. »Das Kämpfen ist vorbei. Jerusalem ist erobert.«
Aber Ranulf wollte sich nicht beruhigen lassen. Er erhob sich erneut und griff nach Murdo. »Geh nach Hause. Finde deine Brüder, und geh nach Hause. Dieser Kampf ist nichts für uns.« Er packte Murdo an der Schulter. »Sag ihnen, was geschehen ist. Versprich mir das, mein Sohn.«
»Ich habe es dir bereits versprochen, erinnerst du dich?« erwiderte Murdo und wischte sich mit einer raschen Bewegung die Tränen aus den Augen.
»Das hast du also. Gut«, sagte Ranulf. »Dann hör mir jetzt zu. Es gibt da noch eine Sache. Ich übergebe dies deiner Obhut und der deiner Brüder.« Herr Ranulf ließ seinen Sohn los und fummelte am Rand seiner Pritsche herum. Mit letzter Kraft zog er die verschlissene Grasmatte weg.
Staunend riß Murdo Mund und Augen auf, denn dort unter dem sterbenden Mann lag ein wahrer Schatz aus Gold und Silber: ein wertvollerer, größerer und wunderbarerer Schatz, als Murdo ihn sich in seinen kühnsten Träumen je hätte vorstellen können.
(elbst im ockerfarbenen Halblicht des Zeltes blendete der Schatz.
Murdo
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