Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
flüsternd, »aber der Yaman bringt es nicht übers Herz, sie zurückzulassen. Noch nicht. Er wird bald einsehen, dass es besser ist, sie hier würdevoll zu bestatten, als sie zwei Wochen lang durch diese Wüsten zu schleppen. Er braucht einfach nur etwas Zeit.«
»Und du glaubst, ihr habt Zeit?«, fragte die junge Kariwa.
Awin schüttelte den Kopf. Natürlich hatten sie keine Zeit. Sie hatten eine Aufgabe zu erfüllen, und er hoffte, dass der Yaman auch das bald einsehen würde. Er beantwortete die Frage aber nicht, sondern fragte nun seinerseits: »Warum reitest du nun doch wieder mit uns, Merege?«
Sie schwieg einen Augenblick, dann antwortete sie: »Ahnmutter Senis hatte mich am Rotwasser darum gebeten. Ginge es nach mir, wäre ich längst nicht mehr bei euch, doch ich denke, sie weiß, warum sie das von mir verlangt.«
»Ahnmutter - was bedeutet das eigentlich?«
»Wir nennen sie eben so«, erwiderte Merege, und es klang, als würde sie etwas verbergen wollen.
»Und warum nennt sie dich Ahntochter?«
»So hat sie mich schon immer genannt, und jetzt sollten wir schlafen, die Nacht ist kurz.«
Awin lag eine Erwiderung auf den Lippen, denn er wollte sich nicht mit diesen knappen Antworten zufriedengeben. Doch dann ließ er es bleiben. Er würde ihr Geheimnis schon noch erfahren, und sie hatte Recht - die Nacht würde kurz werden.
»Du kannst meine Ahntochter von mir grüßen. Und sag ihr, sie wird es noch verstehen.«
Awin stand am Meer. Neben ihm war Senis damit beschäftigt, das Ufer abzusuchen. Sie sammelte Treibholz, aber sie drehte auch jeden größeren Stein um, als hoffte sie, darunter etwas Bedeutsames zu finden. Es war die uralte Senis, nicht die junge, die er in der vorigen Nacht auf seiner Reise getroffen hatte.
»Wie …?«, fragte er.
»Dein Geist ist offen, junger Seher. Er ist stets auf der Suche, und er hört, wenn ich ihn rufe.«
Awin fühlte eine ungewisse Kälte seine Glieder emporkriechen.
»Das kommt, weil du mit den Füßen im Wasser stehst«, sagte die Kariwa grinsend.
Awin blickte nach unten. Wellen umspülten seine nackten Füße. »Du hörst, was ich fühle?«
»Nur, wenn ich es will, junger Seher.«
»Aber warum bin ich hier?«
»Sieh nur«, antwortete die Kariwa und deutete auf das Meer hinaus.
Awin folgte ihrem Wink und sah einen riesigen schwarzen Körper, der sich aus dem Wasser hob und sich in einem kunstvollen, langen Bogen wieder in die Tiefe senkte. Awin stöhnte, überwältigt von diesem Anblick. Ein Awathan. Es gab nicht viele Hakul, die je einen gesehen hatten.
»Die Welt ist voller Wunder, junger Hakul, und dies war nicht das letzte, das du sehen wirst.«
Die Seeschlange war wieder verschwunden. Starke Wellen brandeten ans Ufer. »Du weißt, was mich erwartet?«, fragte Awin, als er seine Fassung wiedererlangt hatte.
Senis legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist nicht gut, zu früh zu viel zu wissen, junger Seher. Aber sag Merege, dass mehr als ein Sturm auf euch zukommt, und sag ihr, dass sie auf dich Acht geben soll.«
Awin schlug die Augen auf. Die Luft war finster und voller Staub. Es musste noch Nacht sein. Mewe hatte sich über ihn gebeugt. »Steh auf, mein Freund, die Sonne geht bald auf, auch wenn es nicht so aussieht. Es scheint, dass sich dieser namenlose Wind nun doch entschlossen hat, ein Sturm zu werden.«
Awin starrte in den Himmel, über den rötlich graue Schleier zogen. Hatte er nur geträumt? Oder ging sein Geist nun schon ohne Ritual und Rabenbeere auf Reisen? Ein Schauer lief ihm
über den Rücken. Er hatte eine Seeschlange gesehen, und Senis hatte gesagt, das sei nicht das letzte Wunder, dem er begegnen würde. Es hatte sehr nach einer Warnung geklungen.
Er setzte sich auf. Die Luft war voller Sand. Der Sturm! Sie hatte auch gesagt, es würde ihnen mehr als ein Sturm begegnen. Und das war ganz sicher eine Warnung. Merege war schon aufgestanden und sattelte ihr Pferd. Er musste mit ihr reden. Hier ging es um Dinge, die er nicht mit seinen Sgerbrüdern besprechen konnte. Sie sahen ihn auch so schon an, als sei er ein Wundertier. Mit Curru musste er erst noch die Sache mit den Rabenbeeren klären. Er hatte es am Vorabend versucht, doch der alte Seher war ihm aus dem Weg gegangen. Merege war die Einzige, die in Frage kam. Er würde auf einen günstigen Augenblick warten. Bis dahin hatte er Gelegenheit, noch ein wenig über diesen Traum - oder diese Reise - nachzudenken.
Am Vortag hatte der Wind sich oft gedreht, war in
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