Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
schon drei Köpfe, vier, wenn er Mabaks junge Frau mitzählte, die am Sichelsee bestimmt mit Ungeduld auf die Rückkehr ihres Mannes
wartete. Sie nennen mich mit mehr Berechtigung Yaman, als ich mich Seher nenne , dachte Awin. Er trug den Heolinstab nicht selbst, denn er wusste, dass sein Geist nicht auf Reisen gehen konnte, solange er den Stab besaß. Er hatte zunächst vorgehabt, ihn Merege anzuvertrauen, aber Senis hatte sie davor gewarnt, damals, nach dem Kampf in Uos Mund, und wenn der Stab den Seher blendete, dann mochte er auch auf die Zauberin ungut wirken. Er war mit Merege übereingekommen, dass jemand aus seinem Klan ihn halten sollte. Die Wahl war auf die Schmiedin gefallen, ein Umstand, der Wela außerordentlich schmeichelte. Sie hielt den Stab stolz, und der Heolin gewann zusehends an Kraft. Zuerst schien das eine weise Entscheidung gewesen zu sein, denn schon in der zweiten Nacht nach dem Ahnental, als sie zum ersten Mal gerastet hatten, hatte ihm Tengwil einen starken Traum gesandt. Darin fand Awin sich vor einer schwarzen Mauer wieder, die den Himmel zu berühren schien. Von irgendwoher hinter der Mauer musste ein gewaltiges Feuer rotes Licht auf die tief hängenden Wolken werfen, die den Himmel bedeckten.
»Wenn sie es öffnet, ist es zu Ende«, hauchte eine Stimme. Awin wollte sich umdrehen, doch er vermochte es nicht. »Senis?«, fragte er ins Nichts hinein. Plötzlich öffnete sich ein Spalt in der Mauer, durch den sich gleißend helle Glut den Weg bahnte. Sie drohte, ihn zu verbrennen. Schweißgebadet und bestürzt war er aufgewacht. Er hatte Merege geweckt und ihr beschrieben, was er gesehen hatte. Lange hatte sie ihn nachdenklich angesehen und gesagt: »Es ist die Mauer, die uns vor den Daimonen schützt. Was hast du noch gesehen?« Aber Awin konnte sich an nichts sonst erinnern, und er verstand nicht, was Tengwil ihm mit diesem Traum sagen wollte. Awin lief immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn er an das Gefühl der Bedrohung dachte, das von diesem Spalt in der Mauer auszugehen
schien, und er musste an den Traum denken, der zu der alten Telia am Sichelsee gekommen war - der, in dem entweder Eri oder er selbst das Daimonentor geöffnet hatten.
Aber das Skroltor lag weit im Norden, und seine Feindin war nach Osten gezogen und schien nun in einer fremden Festung auf ihn zu warten. Er hatte in den folgenden Nächten durch Ruhe und innere Sammlung versucht, weitere Gesichte herbeizurufen. Er wollte mit Senis sprechen, erfahren, was Slahan tat, und es wäre auch gut, da waren sich alle einig, wenn er einen Blick auf das werfen könnte, was Eri und Curru unternahmen. Doch es gelang nicht. Nur einmal hatte er noch in schattenhaften, unklaren Bildern schneebedeckte Berge und die schwarze Mauer gesehen, und es kam ihm vor, als würde diese Mauer verhindern, dass er etwas anderes sah. Er war wieder blind, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als Slahans Spur der Verwüstung zu folgen, nicht wissend, was sie am Ende erwartete, und ahnungslos, wie dicht ihre Verfolger ihnen auf den Fersen waren.
Awin seufzte und spuckte Staub aus. Seit sie den Dhurys überquert hatten, war es jeden Tag wärmer geworden. Und hier in der Wüste Dhaud war es tagsüber schon wieder so heiß, dass Mensch und Tier unter der Hitze stöhnten. Die Nächte jedoch waren so kalt, dass ihnen das Wasser in den Trinkschläuchen gefror, und so fluchten sie abwechselnd über Kälte und Hitze. Das Land war trocken, kein Bach zwang Xlifara Slahan zu Umwegen, und ihr Weg führte am Rand der Wüste entlang, immer weiter nach Osten. An klaren Tagen konnten sie in der Ferne schon die schneebedeckten Gipfel der Sonnenberge aufragen sehen. Awin hätte nie für möglich gehalten, dass es so hohe Berge gab.
»Wie weit mag das sein?«, fragte er den Bogner wieder einmal,
während er überlegte, ob sie das entdeckte Lager aufsuchen sollten oder nicht.
»Vielleicht noch sieben oder acht Tage, bis wir am Fuß der Sonnenberge ankommen«, entgegnete Tuge, aber er gab zu, dass dies eine sehr grobe Schätzung war.
Die Festung Pursu sollte unweit der Berge liegen. Solange sie Slahans Spur hatten, konnten sie sie nicht verfehlen. Das hieß, noch sieben oder acht rastlose Tage, bis … ja, was dann? Noch immer hatte Awin keine Vorstellung davon, wie er Slahan aufhalten konnte. Sie hatten sie in Uos Mund besiegt, doch dieser Sieg hatte schreckliche Folgen gehabt. Noch einmal durften sie sich nicht mit einem halben Sieg zufriedengeben -
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